«Ich hatte Angst vor einer Tragödie»
Tschernobyl-Mitarbeiter stehlen Benzin von Russen

Mitarbeiter des ehemaligen ukrainischen Kernkraftwerks Tschernobyl sorgen sich um ihre mutmasslich nach Russland verschleppten Kollegen. Sie erzählen, wie sie Treibstoff von russischen Soldaten klauen mussten, um das Kraftwerk instand zu halten.
Publiziert: 09.04.2022 um 20:44 Uhr
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Aktualisiert: 09.04.2022 um 21:42 Uhr

Sie sollen beinahe einen Monat lang von russischen Soldaten als Geiseln in der Atomruine Tschernobyl festgehalten worden sein, nun wurden die ukrainischen Mitarbeitenden des ehemaligen Kernkraftwerks wieder befreit. Einige Soldaten der ukrainischen Nationalgarde wurden allerdings von russischen Truppen mitgenommen.

Zwar ist das Kraftwerk seit dem katastrophalen Unfall 1986 nicht mehr in Betrieb, allerdings werden dort noch immer tonnenweise radioaktiver Abfall gelagert. Wenn die Bedingungen am Standort nicht ordnungsgemäss überwacht werden, besteht ein grosses Risiko der Freisetzung von Kernmaterial, wie dort arbeitende Ingenieure erklärten.

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Ingenieur muss Treibstoff für Atomkraftwerk von Russen klauen

«Sie wollten wissen, wie die Einrichtung verwaltet wurde. Sie wollten Informationen über alle Verfahren, Dokumente und Abläufe. Ich hatte Angst, weil die Fragen ständig gestellt wurden, manchmal sogar mit Gewalt», sagte Oleksandr Lobada, ein Ingenieur in der Station, gegenüber dem britischen Sender BBC. «Wir mussten ständig mit ihnen verhandeln und uns bemühen, sie nicht zu verärgern, damit sie unserem Personal erlaubten, die Anlage zu verwalten», ergänzt Ingenieur Walerij Semjonow.

Die radioaktive Strahlung in Tschernobyl ist höher als sonst.
Foto: keystone-sda.ch
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Während der russischen Besatzung fiel zwischenzeitlich auch der Strom aus. Er habe damals heimlich Treibstoff von den russischen Soldaten gestohlen, um die Notstromgeneratoren am Laufen zu halten, erzählte der ukrainische Experte nun. «Ich hatte keine Angst um mein Leben. Ich hatte Angst vor dem, was passiert, wenn ich mich nicht um die Anlage kümmere. Ich hatte Angst, dass es eine Tragödie für die Menschheit gibt.»

Im Untergeschoss des Hauptgebäudes befinden sich schlafsaalähnliche Räume, die völlig durchwühlt wurden. Der Boden ist übersät mit Teppichen, Matratzen, Kleidung, Schuhen und anderen persönlichen Gegenständen der ukrainischen Nationalgarde, die dort festgehalten wurde. Offiziellen Angaben aus Tschernobyl zufolge plünderten die russischen Soldaten bei ihrer Abreise alles, was sie finden konnten, und nahmen auch die gefangenen Mitglieder der Nationalgarde mit.

Die Mitarbeitenden sorgen sich jetzt um ihre mutmasslich nach Russland verschleppten Kollegen. «Es bekümmert uns», sagte Semjonow. Die ukrainische Führung wirft Russland vor, die Belegschaft von Tschernobyl fast einen Monat lang als Geiseln im Bombenschutzkeller des Gebäudes festgehalten und dann gewaltsam nach Russland gebracht zu haben. Die Angaben liessen sich zunächst nicht überprüfen.

Strahlung in Gebäude wegen russischen Soldaten höher

Noch heute lagern in Tschernobyl radioaktive Abfälle. In den vergangenen Tagen gab es mehrere Berichte, dass russische Soldaten im Wald Gräben ausgehoben haben und sich dabei angeblich selbst verstrahlt haben sollen. «Wir haben ihnen gesagt, dass sie das nicht tun sollten, dass es zu gefährlich ist – aber sie haben uns ignoriert», sagte Semjonow dem amerikanischen Sender CNN.

So konnten die ukrainischen Mitarbeitenden klar feststellen, wo sich russische Soldaten aufgehalten haben. «In dem Raum, wo die Russen geschlafen haben, waren die Strahlungswerte höher als normal», erklärt Soldat Igor Ugolkow. Zwar sei die Quelle des radioaktiven Materials nicht sichtbar, doch würde es von kleinen Staubpartikeln stammen, die die Soldaten in das Gebäude gebracht haben. (chs)

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