«Bei strittiger Entscheidung könnte es Aggressionen geben»
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Türkei-Experte zu den Wahlen:«Bei strittiger Entscheidung könnte es Aggressionen geben»

Horrorszenario für Türkei-Wahl
Macht Erdogan bei Niederlage einen auf Trump?

Der türkische Präsident hat deutlich gemacht, dass er seinen Posten nicht einfach räumen wird. Die Sorge um gewaltsame Ausschreitungen nach dem zweiten Wahlgang am 28. Mai wächst. Auch wegen der Tausenden Waffen, die in der Türkei seit 2016 spurlos verschwunden sind.
Publiziert: 11.05.2023 um 08:01 Uhr
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Aktualisiert: 11.05.2023 um 18:08 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Recep Tayyip Erdogan (69) gegen Kemal Kilicdaroglu (74), oder; islamisch-konservativer Nationalismus gegen gesellschaftsliberalen Neuanfang: Das türkische Polit-Duell geht am 28. Mai in die letzte Runde. Dann entscheidet sich, welcher der beiden Männer das Land mit seinen 86 Millionen Einwohnern für die kommenden fünf Jahre regieren wird.

Erstmals seit seiner Wahl zum Regierungschef 2003 sieht es so aus, als könnte Erdogan die Wahlen verlieren. Fragt sich nur: Würde er das Resultat auch akzeptieren?

Die Opposition befürchtet, dass Erdogan sich auch bei einer Niederlage mit aller Kraft an seine Macht klammerte. «Meine Leute werden das Land nicht einem Präsidenten aushändigen, der von der PKK unterstützt wird», schimpfte Erdogan erst vor wenigen Tagen. Er brandmarkt die «Arbeiterpartei Kurdistans» (PKK) regelmässig als Terroristen-Gang und wirft seinem Kontrahenten Kilicdaroglu politische Nähe zu deren Führern vor. Erdogans Innenminister Süleyman Soylu (53) bezichtigt den Westen offen, bei den türkischen Wahlen heimlich einen «Coup» zu planen.

Nach dem ersten Wahlgang bleibt unklar, ob Recep Tayyip Erdogan eine Niederlage gegen Kemal Kilicdaroglu akzeptieren würde.
Foto: Nicolas Righetti
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In Istanbul hat Erdogan gleich doppelt verloren

Bei den Bürgermeisterwahlen in der 16-Millionen-Metropole Istanbul vor vier Jahren zeigte sich, wie schlecht Erdogan politische Niederlagen hinnehmen kann. Sein Favorit unterlag dem Oppositions-Kandidaten knapp. Der verbitterte Präsident tobte und liess die Wahl wiederholen. Der Schuss ging nach hinten los: Erdogans Schützling unterlag so deutlich, dass die türkische Regierung die politische Kontrolle über die grösste Stadt im Land zähneknirschend abtreten musste.

Erdogan unternimmt alles, um die drohende Niederlage abzuwenden. Kürzlich präsentierte er den ersten türkischen Flugzeugträger (Kosten: 900 Millionen) und versprach, den Mindestlohn von derzeit 8500 Lira (390 Franken) im Juli erneut zu erhöhen.

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Blick hat an Wahlkampfveranstaltungen in Izmir und in Istanbul sowohl mit Erdogan-Anhängern als auch mit Kilicdaroglu-Fans gesprochen. Erdogans Leute sagen unisono: Wenn er verliert, dann wegen der Wahlkampf-Einmischung der USA. «Letztlich wird Gottes Wille geschehen», sagt Erdogan-Unterstützer Mujahid (60). Das Kilicdaroglu-Lager entgegnet: Erdogan wird seinen Posten nach 20 Jahren an der Macht nicht einfach so räumen. «Wenn er verliert, kommts hier zum Bürgerkrieg», sagt Kilicdaroglu-Wähler Fikret (64).

Wohin sind die Tausenden Schusswaffen verschwunden?

Erdogan selbst verbreitet unter seinen Anhängern die Angst, dass seine Abwahl den totalen Sittenzerfall in der Türkei nach sich zöge. Seit dem Sturz der islamischen Führer in Libyen 2011 und Ägypten 2013 und erst recht seit dem Ausbruch der politischen Krisen im Iran und dem Sudan ist klar: Verliert Erdogan in der Türkei die Wahl, verliert der politische Islam seinen mächtigsten Verteidiger.

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Auf dem Spiel steht viel. Oppositionskandidat Kilicdaroglu persönlich mahnte seine Anhängerinnen und Anhänger, eine allfällige Erdogan-Schlappe nicht auf der Strasse zu feiern. Die Gefahr von Zusammenstössen mit bewaffneten Gruppierungen sei real.

Noch immer ungeklärt ist der Verbleib von Tausenden Schusswaffen, die die türkische Regierung nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 an ihre Anhänger verteilt hatte. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht im dümmsten Moment wieder zum Vorschein kommen – und dass sich Erdogan mit ausschliesslich demokratischen Waffen gegen die drohende Niederlage zur Wehr setzt.

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