Historiker Maissen über die Präsidentenwahl in Frankreich
«Le Pen wäre ein Verkehrsunfall»

Die Präsidentschaftswahl von heute entscheide über die Zukunft Frankreichs und auch Europas, sagt der Schweizer Professor Thomas Maissen (54).
Publiziert: 07.05.2017 um 14:07 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 13:12 Uhr
Interview: Christian Maurer, Paris

Herr Maissen, worum geht es bei der heutigen Stichwahl in Frankreich zwischen dem sozialliberalen Emmanuel Macron und der Rechtsextremistin Marine Le Pen wirklich?

Thomas Maissen: Es ist eine absolute Richtungswahl. Eine Entscheidung, wie die Zukunft sein soll, aber auch wie man die Vergangenheit des Landes sieht. Die beiden Kandidaten und ihre Programme könnten nicht unterschiedlicher sein. Das ist gut so, als Wähler kann man sich da eigentlich nicht irren.

Hier in Frankreich gilt in den Medien und bei etablierten Politikern: Alle gegen Marine Le Pen! Was wäre so schlimm daran, wenn sie heute gewählt würde?
Ich sehe zwei Gründe. Es wäre erstens ein Bruch mit der republikanischen Idee und dem historischen Selbstverständnis der Franzosen.

Wie das?
Weil Marine Le Pen und ihre Partei, der rechtsextreme Front National, aus einer Tradition kommen, welche die Republik ablehnt, zur Zeit des Vichy-Regimes im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Nazi-Besatzern kollaborierte und eine faschistische Vergangenheit hat.

Marine Le Pen will aus der EU, in ihr sieht sie die Wurzel aller Probleme.
Foto: Getty Images

Und zweitens?
Sie isoliert Frankreich durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik und macht unzählige nationalistisch-sozialistische Versprechungen ohne Angaben, wie sie zu finanzieren wären. Sie will aus der EU raus. Dabei waren die deutsch-französische Aussöhnung und die europäische Einigung immer auch ein Grundpfeiler der französischen Innenpolitik.

Inwiefern?
Frankreich kann seine Rolle und seinen Einfluss in der Welt und in der EU auch als Atommacht und mit einer einsatzbereiten Armee allein nicht mehr wahren. Daraus ergab sich eine Art informelle Arbeitsteilung mit Deutschland, dem wirtschaftlich starken Partner: Die Franzosen machen Aussenpolitik und gehen auch mal in den Krieg, die Deutschen machen Handel und bezahlen. Ginge diese Arbeitsteilung verloren, würden das Selbstverständnis und auch die Bedeutung der EU gegenüber den USA und Russland zerbrechen.

Ist das Modell von zwei Parteien, die sich in Regierung und Opposition ablösen, für Frankreich vorbei, seit vier Kandidaten im ersten Wahlgang etwa gleich viele Stimmen erhalten haben?
Ich glaube nicht. Das hats auch schon gegeben, 1981. Neu ist, dass nicht zwei staatstragende republikanische Parteien in der Stichwahl stehen, sondern gar keine.

Das heisst, dass weder Emmanuel Macron noch Marine Le Pen bei den Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni mit einer soliden Mehrheit rechnen können. Wird Frankreich dann unregierbar?
Nein, ich glaube nicht, dass die Fünfte Republik schon am Ende ist – eigentlich im Gegenteil. Frankreich hat schon einige Erfahrungen gesammelt mit der Cohabitation, wenn der Präsident keine Mehrheit im Parlament hatte. Wenn nun der Präsident, sei es Macron oder Le Pen, keine parlamentarische Mehrheit erreicht, was sehr wahrscheinlich ist, dann sind seine Machtbefugnisse so gross, dass es trotzdem funktionieren kann. In einem rein parlamentarischen System wäre das nicht denkbar.

Die Franzosen haben in der ersten Wahlrunde massiv Anti-System-Kandidaten gewählt, Le Pen und Macron gehören dazu. Braucht Frankreich nicht ein neues System?
Eine Sechste Republik würde die Sache nicht einfacher machen. Die Franzosen erinnern sich ungern an die Vierte Republik, nach dem Krieg, als das Land wegen vieler kleiner Parteien und ohne starken Präsidenten schwer regierbar war.

Macron tritt als jung, unverbraucht und unbelastet an. Ist er das?
Jung ist er schon. Als ehemaliger Minister und Eliteschulenabsolvent läuft er aber Gefahr, als Teil des Systems gesehen zu werden, in dem er schliesslich auch gross geworden ist. Auch wenn er sich nicht in einer Partei hochgearbeitet hat, wie das sonst üblich ist.

Wird der als Aussenseiter ins Rennen gestartete Emmanuel Macron das Rennen der Präsidentschaftswahl gewinnen?
Foto: Getty Images

Warum will Macron die alten Parteien zerschlagen, die Republikaner und die Sozialisten, indem er für die Parlamentswahlen nur Kandidaten für seine Bewegung En Marche! antreten lassen will, die ihrer alten Parteizugehörigkeit abschwören?
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wurde die Parteienlandschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Botschaft kam natürlich bei Macron an. Es wäre politischer Selbstmord, wenn er sich jetzt mit Leuten umgeben würde, die mit ihren traditionellen Parteien klare Vertreter des Systems sind. Ich glaube aber nicht, dass sein Ziel die Zerstörung der Parteien ist. Er will einfach Loyalität und ein klares Bekenntnis für sich. Es kommt zum Schwur, und zwar jetzt, nicht erst dann, wenn die Parteien nach den Parlamentswahlen vielleicht wieder erstarkt sind.

Schreckt dies gestandene und bekannte Politiker nicht ab?
Mit seiner klaren Ansage wird er sich eine solide Basis schaffen können, auch mit bekannten Leuten, die von den Republikanern und den Sozialisten kommen und unter seinem Markenzeichen kandidieren wollen. Und natürlich auch profitieren vom Geist und der Dynamik des Aufbruchs.

Und die alten Parteien sind raus?
Macron wird mit ihnen verhandeln. Aber erst nach den Parlamentswahlen, bei denen die Republikaner nach meiner Einschätzung gut abschneiden werden und auch die Sozialisten besser als bei den Präsidentschaftswahlen. 

Was sind die Schwierigkeiten, die Macron als Präsident haben wird?
Er ist ein politischer Neuling und muss sich seine Basis erst noch schaffen, mit der er fünf Jahre lang regieren kann. Er war nie Parlamentarier, hatte nie ein politisches Exekutivamt in der Provinz inne und ist darum mit den politischen Verfahren und Spielregeln schlecht vertraut.

Wird er seine Bewegung En Marche! zu einer richtigen Partei umbauen?
Sein Ziel ist kurzfristiger: Er muss sich eine solide Mehrheit im Parlament schaffen. Mit eigenen Leuten, aber auch mit ehemaligen Republikanern und Sozialisten. Ob daraus irgendeinmal eine neue Partei entsteht, ist vorläufig sekundär.

Hätte Marine Le Pen nicht ähnliche Probleme zu regieren und Mehrheiten zu finden?
Doch, sogar noch mehr als Macron. Bei Parlamentswahlen nach dem Majorzsystem müsste der isolierte Front National vermutlich gegen eine Front der republikanischen Parteien antreten. Ich traue nur wenigen Politikern aus den etablierten Parteien zu, sich auf ein Experiment mit ihr einzulassen.

Traut man ihr nicht?
Politiker denken immer auch an ihre Zukunft nach einem Machtwechsel. Wer sich mit ihr einlässt, verdirbt sich wahrscheinlich seine Karriere nachhaltig. Marine Le Pens Wahl wäre für die französische Elite eine Art katastrophaler Verkehrsunfall, dessen Folgen man mit dem Aufbau einer glaubwürdigen Opposition und einem Wahlsieg in fünf Jahren wieder ausbügeln kann. Die Chance, dann bereitzustehen, würden sich nicht viele durch einen Flirt mit Le Pen verbauen wollen.

Der Basler Thomas Maissen (54) ist Historiker und seit 2013 Direktor des Deutschen Historischen Instituts Paris.

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