Regierung akzeptiert No-Deal-Gesetz zum Brexit
Boris Johnson scheitert mit Antrag auf Neuwahl

Der britische Premierminister Boris Johnson ist mit seinem kompromisslosen Brexit-Kurs im Unterhaus gescheitert. Die Abgeordneten stimmten am Mittwochabend für ein Gesetz, das einen ungeregelten Austritt am 31. Oktober verhindern soll.
Publiziert: 04.09.2019 um 18:46 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2019 um 10:12 Uhr
  • Premierminister Boris Johnson erlebte am 4. September im Parlament ein Abend der Niederlagen.
  • Die Abgeordneten des Unterhauses stimmten für ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit unmöglich machen soll. Johnsons Regierung hat den Beschluss am 5. September formell anerkannt.
  • Bis am Freitag, 6. September, soll das Gesetz von den Lord im Oberhaus gebilligt werden.
  • Johnsons Antrag auf Neuwahlen am 15. Oktober wurde vom Parlament auch abgelehnt.
  • Johnson will bis am 15. Oktober über einen neuen Brexit-Deal abstimmen lassen. Insbesondere der Backstop ist einer der umstrittener Punkte im aktuellen Deal mit der EU.

Auch seinen Antrag auf eine Neuwahl am 15. Oktober schmetterten sie ab. Johnson reagierte wütend im Unterhaus: «Das ist ein Gesetzentwurf, der dazu gemacht ist, das grösste demokratische Abstimmungsergebnis in unserer Geschichte umzudrehen, das Referendum von 2016.»

Keine Neuwahlen für das britische Parlament
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Nach Antrag von Johnson:Keine Neuwahlen für das britische Parlament

Regierung will No-Deal-Gesetz nicht länger blockieren

Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch das Oberhaus passieren. Dort versuchten Brexit-Hardliner mit einer Flut von Anträgen und Dauerreden am Mittwoch zunächst das Gesetz zu stoppen. Doch am frühen Donnerstagmorgen gaben sie nach: Regierung und Opposition einigten sich darauf, die Debatte nicht ins Wochenende hinein zu schleppen.

Dicht gedrängte Reihen: Derzeit geht es besonders hoch zu und her im «House of Commons», dem britischen Parlament.
Foto: AFP
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Das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll, scheint damit so gut wie sicher rechtzeitig vor der Zwangspause des Parlaments in Kraft treten zu können. Der Gesetzentwurf soll bis Freitagabend von den Lords im Oberhaus gebilligt werden.

Was will das No-Deal-Gesetz?

Der von den Abgeordneten angenommene Gesetzentwurf sieht eine Verschiebung des bisher für Ende Oktober geplanten EU-Austritts bis zum 31. Januar vor, falls es keine Einigung auf ein Abkommen mit Brüssel gibt. Bei der Abstimmung nach dritter Lesung votierten im Unterhaus in London 327 Abgeordnete für die Vorlage und damit gegen den erklärten Willen von Johnson. Nur 299 votierten dagegen.

Parlament lehnt Neuwahlen ab

Für den von Johnson als Reaktion auf die Niederlage vorgelegten Plan vorgezogener Neuwahlen stimmten lediglich 298 Abgeordnete, die oppositionelle Labour-Partei enthielt sich. Für vorgezogene Neuwahlen nötig gewesen wären 434 Stimmen.

Johnson wirft Rebellen aus der Partei

Was den Sinneswandel bei der Regierung ausgelöst hat, war zunächst unklar. Nach der ersten Abstimmungsniederlage hatte Johnson 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die gegen die eigene Regierung gestimmt hatten. Darunter so prominente Mitglieder wie den Alterspräsidenten und ehemaligen Schatzkanzler Ken Clarke und den Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.

Die gemässigte One-Nation-Gruppe in der Tory-Fraktion veröffentlichte eine Erklärung, in der sie Johnson dazu aufforderten, die verbannten Fraktionsmitglieder wieder aufzunehmen.

«Die Massnahmen in den vergangenen Tagen, die Fraktion von gemässigten Mitgliedern zu säubern, sind prinzipiell falsch und schlechte politische Praxis», hiess es in dem Schreiben. Medienberichten zufolge droht die Stimmung selbst in Johnsons Kabinett zu kippen.

Der Regierungschef verteidigte sein Vorgehen in einem Interview mit dem britischen TV-Sender itv am Mittwochabend. «Das sind meine Freunde, glauben Sie mir, ich habe absolut kein Vergnügen an all dem.» Es sei aber «sehr traurig und überraschend» gewesen, dass sie sich entschieden hätten, Grossbritanniens Chancen auf einen Deal mit der Europäischen Union zu schmälern.

Johnson nutzt No-Deal-Brexit als Druckmittel

Johnson will Brüssel mit der Drohung eines ungeregelten EU-Austritts zu Zugeständnissen bringen. Seine Kritiker warnen dagegen vor erheblichen Folgen vor allem für die britische Wirtschaft und viele weitere Lebensbereiche, wenn das Land ohne Übergangsfristen aus der Staatengemeinschaft herausbricht.

Hinter der harten Vorgehensweise Johnsons sehen viele den Einfluss seines Beraters Dominic Cummings. Der Wahlkampfstratege leitete bereits die Kampagne Johnsons beim Brexit-Referendum 2016. Cummings gilt als skrupellos und macht keinen Hehl daraus, dass er das politische System gehörig umkrempeln will.

Klagen gegen Zwangspause des Parlaments

Die No-Deal-Gegner hatten unter enormem Zeitdruck gestanden, weil Johnson dem Parlament eine Zwangspause auferlegt hat, die bereits am Montag beginnen könnte. Der Versuch, die Schliessung des Parlaments gerichtlich zu stoppen, scheiterte bislang.

Ein Gericht in Schottland wies die Klage einer Gruppe von Parlamentariern am Mittwoch ab mit der Begründung, es handle sich nicht um eine juristische, sondern eine politische Frage. Doch bereits am Donnerstag sollte es eine Anhörung vor dem Berufungsgericht in Edinburgh geben. Auch der High Court in London wollte sich am Donnerstag mit dem gleichen Thema befassen.

Kommt es doch noch zu Neuwahlen?

Mit Spannung wird erwartet, ob der Premierminister am Montag einen weiteren Versuch unternimmt, eine Parlamentswahl herbeizuführen. Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei kündigte an, er werde einer Neuwahl erst zustimmen, wenn das Gesetz gegen den No Deal in Kraft getreten ist. Diese Bedingung wäre theoretisch am Montag erfüllt.

Johnson zeigte sich am Mittwoch pessimistisch, noch einen Austrittsdeal mit der EU vereinbaren zu können. Die Chancen, einen Deal in Brüssel zum Brexit zu bekommen, seien «schwer beschädigt, wenn nicht komplett zugrunde gerichtet worden» durch den Gesetzentwurf gegen den No Deal, so der Regierungschef.

Johnson hat straffen Zeitplan für Brexit-Deal

Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag. Die EU-Seite steht auf dem Standpunkt, dass sie gesprächsbereit ist, falls Johnson konkrete neue Vorschläge machen sollte. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.

Johnson will nun am 15. Oktober wählen lassen, um mit einem Mandat beim EU-Gipfel zwei Tage später zu erscheinen. EU-Diplomaten schätzen die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal bei dem Gipfel jedoch ebenfalls als gering ein.

Was ist der Backstop?

Das ursprüngliche Abkommen sieht für Nordirland eine spezielle Zollunion mit der EU vor. Damit sollte eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert werden. Sollte vor dem Austritt Grossbrittaniens aus der EU am 29. März kein Vertrag zustande, kommt der sogenannte Backstop zum Zug.

Die Übergangsmassnahme soll eine harte Grenze auf der Insel verhindern, indem Nordirland teil des EU-Binnenmarktes bliebe.

Doch vor allem dieser Backstop stösst bei Unionisten und Konservativen in England auf Widerstand. Denn mit einem Backstop verliefe die EU-Aussengrenze zwischen Irland und Grossbritannien in der irischen See. Exporte aus England nach Nordirland wären dann nicht mehr so einfach möglich und würde der britischen Wirtschaft schaden.

Größter Streitpunkt der Brexit-Verhandlungen ist der sogenannte Backstop.

Das ursprüngliche Abkommen sieht für Nordirland eine spezielle Zollunion mit der EU vor. Damit sollte eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert werden. Sollte vor dem Austritt Grossbrittaniens aus der EU am 29. März kein Vertrag zustande, kommt der sogenannte Backstop zum Zug.

Die Übergangsmassnahme soll eine harte Grenze auf der Insel verhindern, indem Nordirland teil des EU-Binnenmarktes bliebe.

Doch vor allem dieser Backstop stösst bei Unionisten und Konservativen in England auf Widerstand. Denn mit einem Backstop verliefe die EU-Aussengrenze zwischen Irland und Grossbritannien in der irischen See. Exporte aus England nach Nordirland wären dann nicht mehr so einfach möglich und würde der britischen Wirtschaft schaden.

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EU beurteilt Zeitplan kritisch

«Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken», hiess es aus EU-Kreisen.

Notfallplan für No-Deal-Brexit

Die EU-Kommission hat eine Checkliste für Unternehmen mit Hinweisen etwa zu künftigen Regeln, Genehmigungen, Zöllen und Steuern. Wer als Bürger eine Frage hat, kann gebührenfrei beim Call Center Europe Direct anrufen.

Die EU-Kommission brachte auch Notfallplanungen für drei neuralgische Brexit-Punkte auf den letzten Stand:

  • Übergangsregeln für Güter-, Personen- und Luftverkehr, um am 1. November in jedem Fall die wichtigsten Verbindungen aufrecht zu erhalten
     
  • das Angebot einer Regelung auf Gegenseitigkeit für Fangrechte britischer und europäischer Fischer
     
  • und das Angebot an Grossbritannien, auch in Zukunft an EU-Programmen teilzunehmen, wenn das Land weiter in den EU-Haushalt zahlt.

Wie die EU im Falle eines ungeregelten Brexits Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden will, ist nach wie vor unklar. Die im Austrittsabkommen vorgesehene Backstop-Lösung sei dafür die «einzige Option, die gefunden wurde», erklärte die Kommission. Bei einem Austritt ohne Vertrag wäre diese aber hinfällig.

Britische Regierung öffnet die Kassen

Am Mittwoch kündigte die Johnsons Regierung ein Ende der jahrelangen Sparpolitik im Königreich an, was Pluspunkte bei den baldigen Wahlen bringen könnte. So solle es 20'000 neue Stellen bei der Polizei, sowie 6,2 Milliarden Pfund (7,5 Milliarden Franken) zusätzlich für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS geben, sagte Finanzminister Sajid Javid. Zugleich kündigte er zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben von zwei Milliarden Pfund an.

Rückenwind bekam Johnson auch durch die britische Zentralbank. Diese erklärte, die Risiken eines No-Deal-Brexits wären inzwischen «weniger schlimm» als bisher gedacht, weil die Vorbereitungen verbessert worden seien.

Johnson scheint mit seiner Art gut anzukommen

In Umfragen hat Johnson durch seinen Konfrontationskurs zuletzt massiv an Zustimmung gewonnen. Durch vorgezogene Neuwahlen könnte er sich womöglich eine neue Regierungsmehrheit im Parlament sichern, die er durch den Fraktionswechsel eines Abgeordneten und den Parteiausschluss der Tory-Rebellen verloren hat. (SDA)

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Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seitdem findet ein langwieriger Prozess der Kompromissfindung zwischen britischer Politik und der EU statt. Am 31. Januar 2020 treten die Briten offiziell aus der EU aus. Behalten Sie den Überblick im Brexit-Chaos mit dem Newsticker von Blick.ch.

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