Gesetzliches Schlupfloch in der Ukraine
Männer lassen sich scheiden, um dem Wehrdienst zu entgehen

Um die Mobilisierung zu vermeiden, nehmen einige Ukrainer einiges in Kauf. Manche lassen sich scheiden und werden dann zum alleinigen Vormund ihrer Kinder. Doch nun sind die ukrainischen Korruptionsjäger der Sache auf der Spur.
Publiziert: 22.01.2024 um 19:44 Uhr

Es ist ein Schlupfloch, das ukrainische Männer für sich entdeckt haben. Das zeigt eine Untersuchung des in Lwiw ansässigen Medienunternehmens NGL Media, wie die Online-Zeitung Kyiv Independent berichtet. Es ist ein Mittel zum Zweck: Indem sie die Scheidung einreichen und vor Gericht zum alleinigen Vormund ihrer Kinder werden, bleiben sie vom Wehrdienst verschont.

Dazu hat NGL Media in den ukrainischen Gerichtsregistern rund 30'000 Vormundschaftsstreitigkeiten recherchiert, die zwischen 2021 und 2023 stattgefunden haben. Tatsächlich zeichnete sich ein Muster ab: Nach Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 begannen ukrainische Männer vermehrt, solche Fälle zu initiieren – und gegen ihre Ehefrauen zu gewinnen.

Verdacht auf Prozessbetrug

Der Hintergrund: Männer, die das alleinige Sorgerecht für ein Kind haben, sind von der Mobilmachung ausgenommen und dürfen das Land verlassen. Dies verbietet das Kriegsrecht normalerweise ukrainischen Männern im wehrpflichtigen Alter.

Zahlreiche Ukrainer lassen sich scheiden und werden zum alleinigen Vormund der Kinder. (Symbolbild)
Foto: IMAGO/Cavan Images
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Auffällig ist, dass viele der Vormundschaftsverfahren, die im Jahr 2023 zugunsten der Männer ausgingen, am selben Gericht verhandelt wurden. Nach Angaben von NGL Media waren dies rund 30 Prozent der Entscheidungen eines bestimmten Gerichts in der Stadt Bilhorod-Dnistrovski, 80 Kilometer von Odesa entfernt.

Um die Zuständigkeit der Stadt geltend zu machen, hätten Männer aus verschiedensten Städten vor Ort Wohnungen angemietet oder lokale Anwälte engagiert. Auf diese Weise gingen Klagen aus dem ganzen Land ein, unter anderem aus Kiew, Tschernihiw und Lwiw.

Das Sorgerecht gekauft

Dabei «erkauften» sich Männer eine günstige Entscheidung in Sorgerechtsstreitigkeiten für umgerechnet 3000 Franken. Diesen Betrag zahlten sie als Teil des Honorars an ihre Anwälte. Diese wiederum gaben den Grossteil der Summe als Bestechungsgeld an die Richter weiter, wie NGL Media unter Berufung auf anonyme Quellen des nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) berichtet. 

Die Korruptionsbekämpfer sind inzwischen ebenfalls auf den mutmasslichen Betrug aufmerksam geworden. Wie das ukrainische Nachrichtenportal Kyiv Independent schreibt, verdächtigen die Ermittler vier Richter des besagten Gerichts sowie mehrere Anwälte und Vermittler, am System beteiligt gewesen zu sein.

Basierend auf der hohen Anzahl positiver Gerichtsentscheidungen in solchen Fällen zugunsten der Väter hat NGL Media Berechnungen angestellt: Allein im vergangenen Jahr dürfte das Gericht in Bilhorod-Dnistrovski den Beteiligten mehr als 2,5 Millionen Franken eingebracht haben. (gs)

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