Gegen das Grauen
Bund fliegt Psychologen ins Erdbebengebiet

Schweizer Retterinnen und Retter kommen in der Türkei an ihre körperlichen und mentalen Grenzen. Jetzt bekommen sie seelischen Support vor Ort.
Publiziert: 12.02.2023 um 00:45 Uhr
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Aktualisiert: 12.02.2023 um 09:29 Uhr
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Peter AeschlimannRedaktor

Ein Schwerverletzter, unter Trümmern eingeklemmt. Um ihn zu retten, muss amputiert werden: Für die Angehörigen der Schweizer Rettungskette im syrisch-türkischen Erdbebengebiet gehörten solche grauenvollen Ereignisse in der letzten Woche zum Alltag.

Um sie zu unterstützen, liess das Korps für humanitäre Hilfe am Freitag zwei Psychologen in die Türkei fliegen, wie EDA-Sprecher Pierre-Alain Eltschinger gegenüber SonntagsBlick bestätigt – eine Massnahme, die nur bei ähnlich schweren Einsätzen ergriffen werde.

Seit die Erde im Süden der Türkei und im Norden Syriens bebte, sind bis Samstag mehr als 25'000 Menschen gestorben, über 85'000 wurden verletzt. Die Opferzahlen werden noch steigen.

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Hoffen auf Wunder

Die Chancen, unter den Trümmern noch Überlebende zu finden, gehen gegen null. Jede Rettung jetzt: ein grosses Wunder.

Die Schweizer Rettungskette, ein Team von mittlerweile knapp 100 Leuten, befindet sich im Stand-by-Modus. Wenn die Einsatzkoordinationsstelle in der Katastrophenregion sie aufbietet, rücken die Retterinnen und Retter mit ihren Hunden aus.

Körperliche Müdigkeit macht sich breit. Dazu kommt die mentale Erschöpfung. Wenn ein Mensch während eines Bergungsversuchs stirbt, erschüttert das auch erfahrene Rettungsprofis.

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Hier kommen die eingeflogenen Psychologen ins Spiel. «Eine Erfahrung, die nicht verdaut werden kann, wird zu toxischem Stress», sagt die Zürcher Traumatherapeutin Jacqueline Schmid. In einer ersten Phase müsse man die Leute erzählen lassen. Und ihnen Trost spenden. Das Erlebte müsse raus, sonst droht eine posttraumatische Belastungsstörung.

Denn: «Wenn ein Geschehen so grässlich ist, dass es die Grenzen des Fassbaren sprengt, kann es passieren, dass ein Hirn nicht mehr nachkommt mit Verarbeiten.»

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Hoffnung, Wut und Trauer

Bis gestern Mittag konnten die Mitglieder der Rettungskette Schweiz mit ihren Hunden elf Menschen retten. Darunter zwei Babys. Doch nun, wo die Hoffnung auf weitere Überlebende schwindet, mischt sich Wut unter die Trauer der Betroffenen. Die Sicherheitslage wird zunehmend prekär. Das gilt auch für die internationalen Rettungsteams.

Gestern stellte das österreichische Militär seine Rettungsarbeiten in der Türkei vorläufig ein. Man erlebe zunehmend Aggressionen zwischen Gruppen, sogar Schüsse seien gefallen, berichtete ein Oberstleutnant des Bundesheers der Nachrichtenagentur APA. Später setzten die Österreicher ihre Hilfsoperationen unter dem Schutz türkischer Militärs fort.

«Die Rettungskette Schweiz verfolgt die Entwicklungen in Hatay genau», erklärt EDA-Sprecher Valentin Clivaz gegenüber SonntagsBlick. Die Sicherheitsmassnahmen seien erhöht worden. «Die Sicherheit in der Base of Operation, der Unterkunft der Rettungskette, ist gewährleistet.»

Wann die Teams ihre Zelte im Erdbebengebiet abbrechen und die Rückreise antreten werden, war gestern Mittag noch nicht bekannt.

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Hilfe in Syrien gestaltet sich schwierig

Um den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländern zu helfen, hat die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) bislang sieben Millionen Franken freigegeben – auch für Syrien, wo die prekäre Sicherheitslage Hilfsmassnahmen erschwert. Gemäss Deza-Mitteilung wird morgen Montag eine Mission von Damaskus nach Aleppo aufbrechen: «Diese Kräfte werden rund zehn Tage in den betroffenen Gebieten im Nordwesten Syriens bleiben, um den Bedarf abzuklären und humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten.»

Für die Angehörigen der Rettungskette Schweiz wird die Mission mit der Rückreise nicht zu Ende sein. Das Geschehene muss verarbeitet, die Kräfte für den nächsten Einsatz müssen gebündelt werden.

Denn der kommt bestimmt …

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