Fünf Wochen vor der Bundestagswahl in Deutschland
Merkel regiert an den Jungen vorbei

Fünf Wochen vor der Bundestagswahl ist in Deutschland von Wahlkampf kaum etwas zu spüren. Das ist nicht gut.
Publiziert: 19.08.2017 um 19:57 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 20:03 Uhr
Johannes von Dohnanyi

Deutschland im August 2017: Trotz des bescheidenen Sommers sind die Ferienquartiere an den Küsten und in den Bergen gut belegt. Der Wirtschaft geht es blendend. Die Zahl der Arbeitslosen liegt auf dem tiefsten Stand seit vielen Jahren.

Skandale wie die manipulierten Diesel-Abgaswerte oder der noch immer nicht eröffnete Berliner Flughafens machen kaum noch Schlagzeilen. Die G20-Randale sind vergessen. Pyro-vernarrte Fussballhooligans und Gift-Eier aus Holland sorgen noch für ein wenig Unruhe. Dazu: Kaum Strassenplakate und wenige Grossveranstaltungen, statt hitziger TV-Debatten langweilige Einzelinterviews der Parteiführer -  fünf Wochen vor den Bundestagswahlen liegt eine seltsam satte Ruhe über dem Land.

Merkel zum Vierten?

Natürlich glauben die grossen Parteien und ihre Anhänger, den Ausgang der Bundestagswahl am 24. September zu kennen: Ungefähr 40 Prozent sagen die Umfragen für Angela Merkels Christdemokraten voraus. Der anfangs euphorisch bejubelte Sozialdemokrat Martin Schulz dümpelt mit seinem trotzigen «Ich werde Kanzler» konstant um die 25 Prozent.

Angela Merkel bei einem Besuch eines Bike Shops.
Foto: HANNIBAL HANSCHKE
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Offen ist, wer drittstärkste Fraktion im neuen Bundestag wird. Die Freien Demokraten werden es wohl wieder in den Bundestag schaffen, die Grünen weniger und die Linke noch weniger Abgeordnete als bisher stellen. Ihre Hoffnung auf ein zweistelliges Ergebnis muss die rechtspopulistische Alternative für Deutschland dank des internen Streits über den Umgang mit rechtsextremen Mitgliedern wohl begraben.

Politische Langeweile regiert

Alles deutet in Berlin derzeit also auf eine Fortsetzung der Grossen Koalition hin. Es wäre bereits die vierte ebenso unaufgeregt effiziente wie erfolgreiche Sachwalter-Regierung unter Kanzlerin Merkel. Willkommen im Land der garantierten Verlässlichkeit - und der politischen Langeweile.

Doch der Schein trügt. Unter der Oberfläche bewegt sich einiges. Die jüngeren Wähler etwa, gerne als konsumsüchtig und unpolitisch abgetan: Sie leben ihr politisches und soziales Engagement zunehmend sporadisch, entlang der eigenen Interessen und in spontanen «Zweckgemeinschaften».

Vorschläge für die Politik hätten sie genug: Wie wärs mit mehr Transparenz bei wichtigen politischen Entscheidungen? Warum nicht mal das bedingungslose Grundeinkommen ausprobieren? Oder mutige, gar wagemutige Ideen für mehr soziale Gerechtigkeit? Ein offen geführter Streit der Gesellschaft über Globalisierung und Ausbeutung, über Migration und Bildungschancen, über die Rechte, aber auch die Pflichten des Einzelnen - und, und, und…

Jeder Dritte zweifelt an der Demokratie

Doch die Politik mauert. Weniger aus Arroganz denn aus Ahnungslosigkeit. Wie Angela Merkel vier junge Youtuber zum offenen Interview empfängt, ist hausbacken-rührend. Und für Deutschland gleichzeitig revolutionär. Denn dort, wo sich die jungen Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund tummeln, bei Facebook, Instagramm und Periscope, findet Wahlkampf kaum statt. Ein Kandidatenfoto, ein kurzes «Ich bin…» und «Ich will…» - das wars dann schon. Ping-pong-Diskussionen im virtuellen Raum? Fehlanzeige!

So viel Unkenntnis von der Lebensrealität der Wähler hat ihren Preis: Jeder dritte Bürger zwischen 16 und 26 Jahren kann sich ein anderes als ein Leben in Freiheit und Demokratie inzwischen gut vorstellen.

Nein - die Deutschen werden am 25. September nicht in einem anderen Land aufwachen. Alles wird seinen geregelten Weg weitergehen. Das ist beruhigend. Und beängstigend zugleich. Denn aus dem Auseinanderdriften von Politik und Gesellschaft kann Gutes auf Dauer nicht erwachsen.

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