Fotografin aus Kiew erzählt
«Die Flughäfen stehen in Flammen»

Fotografin Sophia Winnitschenko (21) wohnt in Kiew. Heute Morgen liessen Explosionen ihr Haus erzittern, nun bereitet sie sich auf den Krieg vor. Wir haben sie gefragt, wie die Situation in ihrer Heimatstadt gerade aussieht.
Publiziert: 24.02.2022 um 14:31 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2022 um 18:23 Uhr
Lea Ernst

«Als ich heute Morgen in Kiew aufgewacht bin, blinkten mir bereits die Nachrichten meiner Freunde entgegen: Wir werden bombardiert. Fake News? Doch alle glaubwürdigen Medien bestätigten den Angriff. Ich rannte nach unten, wo meine Mutter bereits packte. Auf dem Tisch sah ich unsere wichtigen Dokumente liegen. Meine Mutter war wegen des Raketenangriffs aufgewacht, hatte schreckliche Angst. Mittlerweile hörte auch ich die Explosionen. Im Halbschlaf hatte ich noch gedacht, der Lärm und die Erschütterungen kämen von den vorbeiratternden Zügen, wir wohnen direkt am Bahngleis.

Ich wusste nicht, was ich tun soll. Vorgestern hielten wir es noch für sehr unwahrscheinlich, dass die Russen bis nach Kiew kommen, niemand hat das hier wohl wirklich erwartet. Jetzt habe ich meine wichtigsten Dokumente in eine Bauchtasche gepackt, um sie jederzeit auf mir zu tragen. Heute Vormittag bin ich kurz rausgegangen, um unseren Arzneikoffer aufzufüllen. Doch es war unmöglich: Nur eine einzige Apotheke hatte geöffnet, davor eine gigantische Schlange. Dasselbe vor den Supermärkten und den Bankautomaten.

Flughäfen stehen in Flammen

Ich überlege die ganze Zeit, ob ich versuchen soll, die Ukraine so schnell wie möglich zu verlassen. Ich befürchte, dass mein Kopf mir Hoffnung vorgaukelt, wo keine mehr ist. Ich habe Glück, ich habe viele Freunde im Ausland. Sie haben mir angeboten, dass ich bei ihnen wohnen kann. Doch die Flughäfen stehen in Flammen, die Strassen sind verstopft mit Autos, die die Stadt verlassen wollen. Bus- und Zugtickets gibt es keine mehr. Die meisten meiner Freundinnen und Freunde bleiben jedoch hier in Kiew, um zu kämpfen, um die Ukraine bis zum Ende zu verteidigen. Aber ich habe Angst, schon in zwei Tagen bitter zu bereuen, nicht geflohen zu sein.

Als Fotografin Sophia Winnitschenko (21) heute Morgen in ihrem zu Hause in Kiew aufwachte, hatte sich bereits alles verändert: Explosionen erschütterten die Stadt, die Strassen waren voller Autos, die die Stadt so schnell wie möglich verlassen wollen.
Foto: Lea Ernst
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Ein Teil meiner Verwandten lebt in Moskau. Vorhin rief mich meine Tante völlig aufgelöst an. Vor lauter Weinen konnte sie kaum sprechen. Ich dachte mir: Du bist in Moskau, warum weinst du? Ich sollte doch diejenige sein, die weint! Sie fragte mich, ob ich nicht zu ihr kommen könnte. Da sagte ich ihr: Verstehst du die Situation nicht? Russland greift uns an. Ich will bestimmt nicht nach Russland, sondern in die andere Richtung, nach Europa. Ich will nicht wütend auf sie und den Rest der russischen Bevölkerung sein, denn sie haben eine furchtbare Regierung. Trotzdem bin ich es. Ich wünschte, sie würden aufstehen und etwas gegen das, was passiert, unternehmen.

Eigene Blutgruppe ausfindig machen

Meine Mutter gibt alles, damit wir nicht in Panik verfallen. Dafür bin ich ihr dankbar. Sie will rational bleiben und jetzt alles Notwendige organisieren. Natürlich sehe ich trotzdem, wie viel Angst sie hat, sie sorgt sich um ihre drei Kinder. Viele meiner Freunde im Ausland schreiben, um zu fragen, wie es mir geht. Dieser Support ist schön. Doch es ist komplett surreal, auf Instagram zu sehen, wie Leute in anderen Ländern Bilder ihres Mittagessens oder ihrer sonnigen Spaziergänge posten.

Eigentlich hatte ich für heute ein grosses Werbeshooting geplant, auf das ich mich sehr gefreut habe. Ich bin in Fotografin. Natürlich ist das Shooting jetzt abgesagt. Stattdessen werde ich mich nun weiter vorbereiten: Dokumente zusammentragen, meine Blutgruppe ausfindig machen. Ich will mich so schnell wie möglich an der Universität der Künste in Berlin bewerben. Doch dafür reicht die Zeit wohl nicht mehr aus. Heute Nachmittag werde ich mir Erste-Hilfe-Videos anschauen. Ich weiss zwar, wie man jemandem die Temperatur misst. Aber nicht, wie man Schwerverletzte behandelt.»

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