Die Stadt Cherson ist befreit
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Ukrainer feiern:Die Stadt Cherson ist befreit

Experten mahnen zur Vorsicht
So könnte Putin den Rückzug zu seinem Vorteil nutzen

Die Stadt Cherson ist wieder in ukrainischer Hand. Ein herber Verlust für Russland – doch Kremlchef Putin könnte mit seinem Rückzug den Weg für andere Pläne ebnen.
Publiziert: 11.11.2022 um 19:37 Uhr
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Aktualisiert: 12.11.2022 um 17:21 Uhr
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Das ukrainische Blau-Gelb weht wieder über den rechten Ufern des Dneprs – und somit auch über der kürzlich von Russland aufgegeben Stadt Cherson. Wie das russische Verteidigungsministerium am Freitag mitteilt, wurden alle Truppen auf die rechte Flussseite verlegt. Ein herber Verlust für Russland – Cherson war eine strategisch wichtige Stadt.

Und wie so oft war Kremlchef Wladimir Putin (70) nicht anwesend, um seinem Volk und seinen Truppen die schlechte Nachricht zu überbringen. Stattdessen erklärten der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) und der russische Kommandant in der Ukraine, General Sergei Surowikin (56), in einem im Fernsehen übertragenen Gespräch, dass ein Festhalten an Cherson nicht mehr vertretbar sei.

Hier marschieren die ukrainischen Truppen in Cherson ein
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Tiktok-Video zeigt:Hier marschieren die ukrainischen Truppen in Cherson ein

Putin schweigt – und verkauft Rückzug als Strategie

Überraschend ist Putins ohrenbetäubendes Schweigen nicht, wie Ulrich Schmid (56), Slawist an der Universität St. Gallen, gegenüber Blick erklärt. «Putin ist ein Meister darin, Misserfolge auf andere abzuschieben. Er drängt sich nur ins Scheinwerferlicht, wenn es einen Sieg zu verkündigen gilt – in anderen Fällen wird ein Sündenbock gesucht.» Seit Jahren ist das Putins Modus Operandi.

Zivilisten haben im Zentrum von Cherson bereits die ersten ukrainische Fahne gehisst.
Foto: Twitter / @nexta_tv
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Dominik Knill (63), Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft, geht im Gespräch mit Blick davon aus, dass man mit dem Rückzug innenpolitische Unruhen vermeiden möchte. «Eine Aufgabe von ‹russischem› (illegal annektiertem) Staatsgebiet wäre innenpolitisch kaum zu rechtfertigen. Insofern ist davon auszugehen, dass der Rückzug über den Fluss dazu dient, eine Waffenstillstandslinie zu etablieren.»

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«Aus russischer Sicht ist der Rückzug aus Cherson nur eine Episode»

Was aber trotz der Abwesenheit des russischen Präsidenten durchzusickern scheint: Auch wenn der Verlust von Cherson für Putin wohl hochemotional war – es beweist, dass der für seine Unberechenbarkeit bekannte Mann im Kreml doch auch pragmatisch handeln kann, so Experten zum «Guardian». Der Kremlchef wird sich nicht so einfach geschlagen geben.

Knill: «Putin möchte nicht als der Totengräber von Russland in die Annalen der Geschichte eingehen. Er wird alles tun, um Russland seinen Stolz zurückzugeben.» Viel eher würden sich Putins Truppen zurückziehen und ihre Kräfte neu formieren. Aufgegeben hat er also nicht.

Auch Schmid ist sich sicher: «Aus russischer Sicht ist der Rückzug aus Cherson nur eine Episode. Dass sich die russische Armee jetzt zurückzieht, ist wahrscheinlich Teil einer grösseren Strategie.» Was plant Putin also?

«Russland wird Winterzeit abwarten»

Gegenüber «New York Times» sagte ein US-Sicherheitsbeamter: «Putin hat es nicht eilig. Er sieht dies als einen längeren, gross angelegten Konflikt mit dem Westen.» Er sei von Natur aus ein Opportunist. «Seine Strategie besteht nun darin, den Stand der Dinge bis zum Ende des Winters abzuwarten und dann die Strategie neu zu bewerten.» Schmid: «Im Kreml rechnet man mittel- und langfristig mit einer westlichen Ukraine-Fatigue.»

Oberst Knill führt die Taktik des russischen «Winterschlafs» aus. «Russland wird die Winterzeit nutzen zur Aufrüstung, Verbesserung der Logistik, Ausbildung der Soldaten und Kader, sowie zum Kauf von Waffen und Systeme bei Verbündeten Staaten einzukaufen. Der Krieg und die Frontlinien werden buchstäblich eingefroren.» Für ihn steht fest: «Solange Putin glaubt, diesen Krieg aussitzen zu können, weil er nicht auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Rücksicht nehmen muss, wird er mit der Unterstützung von Verbündeten in der Ukraine bleiben.»

«Rückzug ist kein Vorbote einer Katastrophe»

Auch Mick Ryan, pensionierter australischer Generalmajor, warnt auf Twitter, dass man den russischen Rückzug aus Cherson mit Vorsicht geniessen sollte. «Der Rückzug ist eine Aufgabe, die regelmässig während der mobilen Verteidigung oder der Verzögerung eingesetzt wird, um das Gesamtziel der Wiederaufnahme der Offensivaktion zu erreichen. Er sollte als Routinetaktik und nicht als Vorbote einer Katastrophe behandelt werden.»

Für die Ukraine wäre das fatal, wie das «Institute for the Study of War» (ISW) in seinem täglichen Bericht schreibt. Während die Verteidiger im Begriff sind, einen grossen Sieg zu erringen – die ukrainischen Truppen befinden sich schon im Zentrum Cherson –, würde ein Waffenstillstand Russland in die Hände spielen. «Ein Waffenstillstand würde dem Kreml die dringend benötigte Ruhepause verschaffen, um die russischen Streitkräfte neu zu formieren», heisst es im Bericht.

Doch das ISW sieht keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine kampflos in den Winter ziehen wird. «Das Winterwetter könnte schlecht ausgerüsteten russischen Streitkräften in der Ukraine unverhältnismässig grossen Schaden zufügen, aber gut ausgerüstete ukrainische Streitkräfte werden ihre Gegenoffensive wegen des Winterwetters wahrscheinlich nicht einstellen.» Vielmehr würden ukrainische Truppen das gefrorene Gelände zu ihren Gunsten nutzen, um sich leichter zu bewegen als in den schlammigen Herbstmonaten.

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