Russe wirft Molotow-Cocktails auf Rekrutierungsbüro
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Protest gegen Mobilisierung:Russe wirft Molotow-Cocktails auf Rekrutierungsbüro

Experte Ulrich Schmid über verzweifelte russische Männer
Demonstration, Desertation, Resignation

Seit Putins Ankündigung der Mobilmachung sind viele Russen verzweifelt. Die einen ergreifen die Flucht, andere tun sich sogar etwas an – bis hin zur Selbstverbrennung. Dennoch hat Experte Ulrich Schmid zufolge die Mehrheit der Russen ihr Schicksal akzeptiert.
Publiziert: 26.09.2022 um 20:08 Uhr
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Aktualisiert: 27.09.2022 um 07:26 Uhr
Carla De-Vizzi

Seit der russische Präsident Wladimir Putin (69) vergangene Woche die Teilmobilmachung angekündigt hat, herrscht in und um Russland Ausnahmezustand. Während bereits Tausende desertierende Reservisten in die Nachbarländer geflüchtet sind, häufen sich inzwischen auch die Meldungen waghalsiger Protestaktionen von russischen Männern, die sich weigern, in den Krieg zu ziehen.

So zündet sich am Montagmorgen in der russischen Stadt Rjasan ein Mann an und ruft, dass er nicht in den Krieg ziehen werde. Am selben Morgen zückt in der ostsibirischen Stadt Ust-Ilimsk ein Reservist die Waffe und schiesst auf einen Rekrutierungs-Kommandanten. Laut dem Russland-Experten Ulrich Schmid (56) sind viele Russen aktuell ernüchtert und enorm angespannt. «Die Teilmobilmachung ist für die Familien natürlich eine Tragödie», so Schmid zu Blick. Viele seien verunsichert und nervös.

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«Die Russen wollen ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen»

Wie Schmid erklärt, zeigt sich in Russland aktuell ein Spektrum von unterschiedlichen Stimmungen. «Während die einen das Weite suchen, sind die anderen extrem verzweifelt und lassen sich zu selbstmörderischen Protestaktionen, wie jener, der sich angezündet hat, hinreissen.» Dabei handelt es sich Schmid zufolge aber um Einzelfälle.

Eingezogene Russen bei der Vereidigung in Sewastopol. So wie ihnen ergeht es derzeit Tausenden Menschen.
Foto: IMAGO/SNA
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Die Mehrheit gehöre zu einer dritten Gruppe. «Die meisten Reservisten akzeptieren ihre missliche Lage und ziehen resigniert in den Krieg», so der Experte. Dies hätte jedoch keineswegs damit zu tun, dass sie Putins «Spezialoperation» gutheissen würden. Diejenigen, die Putins Krieg mit Feuer und Flamme unterstützen würden, seien schon längst an der Front.

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«Die Reservisten, die jetzt mit grossem Unmut in den Krieg ziehen, wollen ihre Existenz nicht aufs Spiel setzen.» Zu gross sei die Furcht vor dem Staatsapparat und den rigorosen Massnahmen, die gegen Protestierende und Kriegsverweigerer eingesetzt würden. Deshalb sind Schmid zufolge bisher auch grossflächige Demonstrationen gegen die Mobilisierung ausgeblieben.

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Kampf-Moral der Reservisten wird niedrig sein

Während die einen also so schnell wie möglich die Flucht ergreifen, ziehen diejenigen, die übrig bleiben, widerwillig an die Front. Was bedeutet das für den weiteren Kriegsverlauf? «Die Kampf-Moral der Reservisten, die jetzt eingezogen werden, wird sehr niedrig sein», so Schmid. Viele Russen sehen nicht ein, warum sie einen Krieg in der Ukraine führen sollen. Zudem sei für die russische Bevölkerung auch klar, dass die anfänglich angekündigte Entnazifizierung nur ein Propagandamythos sei.

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Doch damit nicht genug: «Der Krieg ist aus der Perspektive vieler Russen nicht ihr Krieg, sondern der Krieg der Regierung.» Dass sie jetzt entgegen der monatelangen Behauptung des Kremls, dass sich die Bürger nicht um die «Spezialoperation» sorgen müssten, trotzdem in den Krieg ziehen müssen, stosse bei den Russen auf Unverständnis. «Damit wurde das Bild, das Putin den Bürgern monatelang von seiner ‹Spezialoperation› vermittelt hat, nun endgültig vernichtet. Putins Fassade bröckelt immer mehr.»

Grenzschliessung oder Verhängung des Kriegsrechts – die Zeit rennt

Ebenfalls anzumerken sei, dass die Reservisten zu einem – für die russischen Streitkräfte – äusserst prekären Zeitpunkt rekrutiert werden: «Die Kämpfer werden auf ein Kampffeld geschickt, auf dem die Russen derzeit zurückgedrängt werden.»

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Schmid erwartet, dass Putin die Reservisten zur Besetzung in jenen Gebieten, die Russland bereits oder teilweise erobert hat, einsetzen wird. Diejenigen, die dagegen nach wie vor noch flüchten wollen, werden dies in den nächsten Tagen tun. «Diese Woche ist noch eine weitere Fluchtwelle zu erwarten, danach wird es vermutlich abflachen.» Nicht nur aufgrund der Grenzschliessungen, auch aufgrund des Kriegsrechts, das potenziell verhängt werden könne, sei es den Russen bewusst, dass die Zeit renne und sie sich rasch für oder gegen eine Flucht entscheiden müssen.

Klar ist für Schmid: «Die Bilder der kilometerlangen Autoschlangen und der überfüllten Flughäfen sowie die Meldungen der verzweifelten Soldaten, die sich mittlerweile häufen, bedeuten für Putin und seine Entourage einen erheblichen Prestigeverlust.»

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