ETH-Experte Benno Zogg erklärt BLICK die Krawalle in Belarus
«Tichanowsakaja wurde massiv unterschätzt»

Bei den Krawallen in Belarus ist kein Ende abzusehen. Was wird aus dem Staat, der von Europa und Russland hin- und hergezogen wird? ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg erklärt BLICK, warum gerade jetzt die Opposition so gross ist und wie sich die Lage entwickeln könnte.
Publiziert: 12.08.2020 um 17:27 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2020 um 15:17 Uhr
Die EU-Staaten anerkennen die Wahl in Belarus nicht. Das sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nach einem Sondergipfel der EU-Regierungschefs.
Foto: Keystone
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Interview Guido Felder

Seit der Präsidentschaftswahl am Sonntag ist Belarus (Weissrussland) im Ausnahmezustand. Die Opposition, die dem seit 26 Jahren mit harter Hand herrschenden Alexander Lukaschenko (65) Wahlmanipulation vorwirft, geht täglich auf die Strasse. Bisher wurden Hunderte von Demonstranten verhaftet und Hunderte wegen das brutalen Eingreifen der Polizei verletzt, es gab sogar Tote. Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja (37) hat sich mit den Kindern nach Litauen abgesetzt.

Beobachtet die Lage in Belarus ganz genau: Benno Zogg vom Center for Security Studies an der ETH Zürich.
Foto: VLADISLAV CULIOMZA

Benno Zogg (30) vom Center for Security Studies an der ETH Zürich ist Belarus-Experte. In diesen Tagen weilte er in der polnischen Hauptstadt Warschau, wo er zusammen mit Belarussen die Lage im Nachbarland beobachtete. Im BLICK erklärt er, wie sich die Lage in Belarus entwickeln könnte.

BLICK:Herr Zogg, Swetlana Tichanowskaja ist ins Ausland geflohen. Wovor muss sie sich konkret fürchten?
Benno Zogg: Tichanowskaja fürchtet nicht nur um ihre Kinder, die sie bereits vor den Wahlen ausser Landes gebracht hat. Sie muss um ihre Freiheit fürchten; ihr droht eine willkürliche Verhaftung. Rivalen hatte der Staatsapparat jeweils unter echten oder fingierten Anschuldigungen meist für kurze Zeit weggesperrt oder von den Wahlen ausgeschlossen.

Ihrem Mann wurde eine Kandidatur durch Verhaftung verunmöglicht. Warum hat man nicht auch Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin verhindert?
Dass Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin zugelassen wurde, war schlicht Ausdruck davon, dass die Machthabenden sie nicht als Gefahr angesehen hatten. Sie und die Frustration der Bevölkerung wurden massiv unterschätzt.

Wie reagiert Lukaschenko auf Tichanowskajas Flucht?
Für den Staatsapparat ist es eher genehm, dass sie jetzt ausser Landes ist und nicht im Land selbst als Mobilisierungspunkt dienen kann. Mit den weit herum abgeschalteten Medien und Internet fiele ihr dies aber sowieso schwer. Belarussinnen im In- und Ausland tappen weitgehend im Dunkeln und machen sich grosse Sorgen darüber, was genau passiert.

Gibt es eine Chance, dass Lukaschenko wegen des grossen Drucks den Sessel räumt oder auf mehr Demokratie setzt?
Lukaschenko wird sich um jeden Preis an der Macht zu halten versuchen. Er hat keine andere Wahl. Er sieht sich tatsächlich als Übervater des Landes und einziger Garant des Überlebens von Belarus. Die Forderung der Opposition ist schlicht, dass Lukaschenko gehen muss, dahingehend gibt es kaum Raum für Kompromisse – besonders nicht nach der zunehmend willkürlichen Gewalt, die staatliche Sicherheitskräfte jetzt anwenden.

Lukaschenko gilt als «der letzte Diktator Europas». Hat er auch gute Seiten?
Lange Zeit war ihm die Bevölkerung ehrlich dankbar und hat den Wert der Stabilität geschätzt. Belarussinnen und Belarussen hatte viele Freiheiten in ihrem Leben, aber Demokratie war nie Teil davon und hat auch nie Lukaschenkos politischem Verständnis entsprochen.

Warum lösen gerade diese Wahlen derartige Reaktionen aus?
Sie sind die ersten seit langem in Belarus, in denen es nicht um Aussenpolitik geht. In der Vergangenheit hatte Lukaschenko oft mit dem Verhältnis zum Westen oder Russland gespielt, um Konzessionen und Unterstützung zu erhalten. Dieses Mal geht es rein um das innenpolitische System und besonders um die Führungsfigur, von der sämtliche politische Macht ausgeht.

Wie schätzen Sie die Opposition ein?
Die Opposition hat kein klares politisches Programm. Anders als auf dem Maidan in der Ukraine geht es nicht darum, sich Richtung EU oder Russland auszurichten. Dies bedeutet auch, dass Europa sehr wenig Einflussmöglichkeiten hat.

Wie kann und soll Europa reagieren?
Die EU kann versuchen, auf subtile Art und Weise die Zivilgesellschaft und freie Medien in Belarus zu unterstützen, ohne sich aber direkt einzumischen. Die EU wird auch gezielte Sanktionen prüfen, die man 2015 aufgehoben hatte.

Putin wird sich ob den Unruhen im Nachbarland ins Fäustchen lachen. Was unternimmt der Kreml?
Russland hält sich auffällig zurück. Es kommt dem Kreml nicht ungelegen, wenn Belarus mit sich selbst beschäftigt ist und es sich mit dem Westen verscherzt. Dann bleibt nur noch die weiterhin grosse wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland und vom russischen Markt.

Sie haben von Polen aus die Lage in Belarus beobachtet. Was haben Sie erlebt?
Die Gemeinde an Belarussen in Warschau ist sehr gross, und die Betroffenheit auch. Die Dürre an überprüften Informationen macht vielen zu schaffen, man ist mit vielen willkürlichen Bildern von Polizeigewalt konfrontiert und weiss oft nicht, wie das Gesamtbild aussieht. Es ist für Beobachter wie mich fast so, dass ein lange politisch apathisches und stabilitäts-liebendes Volk hier politisch erwacht ist und sich in kurzer Zeit eine politische Zivilgesellschaft gebildet hat.


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