Die Schweiz ist für die Türkei mal Vorbild, mal Feindbild
Der Freund, der schnell verärgert ist

Bei der Staatsgründung übernahmen sie unser Zivilgesetzbuch, nach einer Armenien-Resolution luden sie Aussenministerin Calmy-Rey wieder aus. Die Türkei und die Schweiz pflegen eine wechselvolle Beziehung.
Publiziert: 12.10.2016 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 23:02 Uhr
Joël Widmer

Bundespräsident Pascal Couchepin setzte einiges in Bewegung, bevor er 2008 zum fünftägigen offiziellen Besuch in die Türkei reiste. Die Beziehung der beiden Länder war getrübt durch die Diskussionen um den Völkermord an den Armeniern. Der FDP-­Magistrat wollte ein würdiges Präsent mitbringen, zumal auch die 80-jährigen diplomatischen Beziehungen gefeiert wurden.

Couchepin liess seine Beamten darum nach einem Holztisch suchen. Nach jenem Tisch, auf dem 1923 der Friedensvertrag von Lausanne unterzeichnet worden war. Der Vertrag ist der Ursprung der modernen Türkei. «Man hat den Tisch dann in ­einem Büro des Waadtländer Strassenverkehrsamts gefunden», sagt Couchepin zu BLICK. «Ich habe ihn in die Türkei mitgenommen, und er wurde gewürdigt.»

Damit waren 2008 die Beziehungen der beiden Länder wieder im Lot. In den Jahren zuvor hatten sich die Türken mächtig verärgert gezeigt über das Waadtländer Parlament und den Nationalrat, die fünf Jahre zuvor die Tötung von über 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anerkannten. Ankara zog gar eine Einladung an die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey zurück. Und auch ein Besuch von Wirtschaftsminister Joseph Deiss wurde 2005 abgesagt. Grund dafür war ein Verfahren gegen einen türkischen Politiker wegen Leugnung des armenischen Völkermords. Später hat Justizminister Christoph Blocher die Herzen der Türken wieder gewonnen, als er in Ankara die Schweizer Antirassismus-Strafnorm kritisierte.

«Bring das nächste Mal noch die Stühle mit»: Der damalige ­türkische Staatschef Abdullah Gül prostet Bundespräsident Pascal Couchepin im November 2008 am Staatsdiner in Ankara zu.
Foto: AP Photo
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Schweiz als Vorbild

Dabei war die Schweiz für die Türken ein grosses Vorbild – zumindest bei der Staatsgründung. Weil der erste türkische Justizminister in der Schweiz studiert hatte, übernahm die Türkei 1926 fast wörtlich das ­Zivil- und Obligationenrecht der Eidgenossenschaft. Damit wurde der Scharia eine Absage erteilt. Und 2002 hat die Türkei eine Schweizer Reform im ­Familienrecht übernommen.

Gut blieb die Beziehung auch nach dem gescheiterten Militärputsch diesen Sommer und der Repressionswelle des türkischen Staats. Aussenminister Didier Burkhalter und seine Diplomaten zeigten sich im Vergleich zu manchen EU-Staaten zurückhaltend in der Kritik an Erdogan – und wurden dafür gerügt. Christian Levrat (SP), Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats, steht hinter Burkhalter. «Ich teile die Kritik nicht», sagt Levrat. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten habe die Schweiz den Militärputsch sehr schnell und sehr klar verurteilt. «Demokratisch gewählte Institutionen müssen respektiert werden, auch wenn wir ihre Politik nicht teilen», so der SP-Präsident. «Das gibt uns auch die Möglichkeit, die Verhältnismässigkeit der derzeitigen Repression des türkischen Staats zu hinterfragen.» Nur wenn man mit der türkischen Seite offene Kontakte pflege, könne man die Frage der Rechtsstaatlichkeit und der Meinungsfreiheit im Land thematisieren.

Das macht nun Levrat. Er reist Ende Oktober mit einer Delegation von Ständeräten zum offiziellen Besuch nach Ankara. An diesem Reiseplan hält die Delegation auch nach den poli­tischen Wirren fest. «Wir haben ein sehr ausgewogenes Programm», sagt Levrat. Sie würden mit Vertretern der vier grössten Fraktionen, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsvertretern sprechen.

Die Gesprächs-Atmosphäre Ende Oktober dürfte aber dennoch etwas frostiger sein als beim Couchepin-Besuch 2008. Damals war Staatspräsident Abdullah Gül bei der Übergabe des offiziellen Geschenks zum Scherzen aufgelegt. «Er hat bei der Übergabe gewitzelt, das nächste Mal solle ich auch die Stühle mitbringen», sagt Couchepin.

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