Die drängendsten Fragen zur Krise an der ukrainischen Grenze
Zieht Russland gegen die Ukraine in den Krieg?

Laut einem US-Geheimdienstbericht will Russland im nächsten Jahr in den Nachbarstaat Ukraine einmarschieren. An der Grenze stehen schon Tausende Soldaten sowie Panzer und Artillerie bereit. Kommt es zur Eskalation? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 06.12.2021 um 21:07 Uhr
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Aktualisiert: 06.12.2021 um 22:51 Uhr
Martin Bruhin

Seit Wochen zieht Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Satellitenbilder zeigen grosse Militärverbände – Zehntausende Soldaten, Panzer, Artillerie und Ausrüstung. Laut einem Bericht der «Washington Post» plant Russland eine Invasion des Nachbarlands Ukraine. Die Zeitung bezieht sich dabei auf die Aussagen von ranghohen Pentagon-Beamten sowie auf ein Geheimdienstdokument. Das Pentagon selbst wollte sich nicht dazu äussern.

Klar ist aber: Der Westen und die Ukraine machen sich Sorgen. Wegen der angespannten Lage planen US-Präsident Joe Biden (79) und Russlands Staatschef Wladimir Putin (69) am Dienstag ein virtuelles Gipfeltreffen. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum drohenden Konflikt:

Wie ist die aktuelle Lage?

Die Situation zwischen Russland und der Ukraine ist sehr angespannt. Die einstigen Bruderstaaten haben schon lange miteinander gebrochen. Einer der Gründe: Die Maidan-Revolution im Jahr 2014 in Kiew, die mit der Absetzung des prorussichen Präsidenten Wiktor Janukowytsch (71) endete. Kurz darauf annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Im selben Jahr begann der Krieg in der Ostukraine – dieser dauert bis heute an. Von Russland unterstützte Rebellen kämpfen dort für eine Abspaltung der Gebiete Donezk und Luhansk. Eine weitere Eskalation ist deshalb durchaus möglich. Und: Seit Jahren versucht Russland, einen Beitritt der Ukraine in die NATO zu verhindern und droht mit Konsequenzen.

Der US-Geheimdienst befürchtet, dass Russland bald in der Ukraine einmarschieren könnte. Hier: Russische Militärübung auf der Krim.
Foto: keystone-sda.ch
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Wie würde ein solcher Angriff ablaufen?

Wie die «Washington Post» schreibt, glauben US-amerikanische und ukrainische Beamte und Militäranalysten, dass Russland eine weitaus grössere Invasion starten würde als bei der Annexion der Krim. Russland könnte demnach an verschiedenen Orten gleichzeitig angreifen und die ukrainischen Truppen so in einen Mehrfronten-Krieg zwingen. Dabei ginge es weniger darum Gebiete zu erobern, sondern um eine schnelle Kapitulation der Ukraine. Kiew und der Westen müssten sich dann den Forderungen Putins beugen.

Wie stark sind die Armeen der beiden Länder?

Wie das Onlineportal «Welt» schreibt, umfasst das ukrainische Militär rund 250'000 Soldaten und Offiziere. Dazu kommen noch einige Zehntausend Reservisten. Das Land verfügt über eine Luftwaffe sowie eine Marine und wird von den USA mit Waffen versorgt. Durch den Konflikt in der Ostukraine ist die Armee nun auch kampferprobt. Dennoch wäre die russische Armee wohl überlegen. Denn grosse Teile der ukrainischen Ausrüstung stammen noch aus sowjetischer Zeit – unter anderem fast alle Flugzeuge. Laut der Statistik-Plattform Statista verfügt Russland truppentechnisch über das fünftgrösste Heer der Welt – mit über einer Million Soldaten. Nach ukrainischen Einschätzungen befinden sich davon derzeit rund 94'000 Soldaten in der Nähe der Grenze. Die USA gehen von rund 70'000 aus – bald dürften es aber wohl rund 175'000 sein. Schätzungsweise befinden sich alleine an der Grenze zur Ukraine Tausende russische Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, sowie Hunderte Kampfflugzeuge und Helikopter. Im Schwarzen Meer sollen sich zudem 75 Kriegsschiffe und sechs U-Boote in Stellung gebracht haben.

Wie reagiert der Westen bei einer Invasion?

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (62) drohte bereits mit einem «hohen Preis», den Russland im Falle einer Aggression gegen die Ukraine zahlen werde. Auch US-Aussenminister Antony Blinken (59) warnte vor «ernsthaften Konsequenzen». Da die Ukraine derzeit aber nicht Mitglied der NATO ist, würde bei einem Angriff der Bündnisfall nicht eintreten – ein direktes militärisches Eingreifen des Westens wäre demnach sehr unwahrscheinlich. Im Kriegsfall würde der Westen das Land aber sicher weiterhin mit Waffenlieferungen unterstützen. Zudem drohen Russland durch den Westen massive wirtschaftliche Sanktionen.

Wann wird mit einem Angriff gerechnet?

Noch ist unklar, ob Russland mit seinem Truppenaufmarsch tatsächlich eine Invasion plant. Doch nach Geheimdiensterkenntnissen soll es im Frühjahr 2022 zum Angriff kommen. Auch die Ukraine selbst befürchten eine Offensive innerhalb weniger Wochen. «Der wahrscheinlichste Zeitpunkt zur Eskalationsbereitschaft ist Ende Januar», sagte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksi Resnikow (55). Derzeit analysiert der ukrainische Geheimdienst alle möglichen Szenarien.

Was könnte Putin gewinnen – was riskiert er bei einem Angriff?

Mit einem Sieg könnte Putin endlich die Sicherheitsgarantien durchsetzen, die er sich schon lange wünscht. Dazu gehört etwa auch die Zusicherung, dass sich die Ukraine und Georgien nicht der NATO anschliessen dürfen. Zudem strebt Russland die Rückkehr zur Ordnung der Sowjetzeiten an. Damals standen sich der Westen und Russland auf Augenhöhe gegenüber. Doch dafür müsste Putin einen schnellen Sieg erringen. Andererseits läuft er Gefahr, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Denn der Krieg könnte sich zu einem endlosen Stellungskampf werden, wie es bereits in der Ostukraine der Fall ist. Und selbst wenn er gewinnen würde – die Kontrolle der besetzten Gebiete wäre schwierig. Denn schon die kleine Krim hat Hunderte Milliarden Rubel an Investitionen verschlungen.

Was sagt Russland zu den Vorwürfen?

Russland selbst weist die Vorwürfe einer anstehenden Offensive zurück. «Wir bedrohen niemanden», sagte Putin am Montag. Sein Land reagiere nur auf Bedrohungen, die der russischen Grenze immer näher rücken würden. Konkret meinte er damit etwa Übungsflüge von US-Bombern über dem Schwarzen Meer sowie US-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien. Und: Der Kreml wirft der Ukraine vor, mehr als 120'000 Soldaten an die Linie zu den prorussischen Separatistenregionen Donezk und Luhansk verlegt zu haben. «Das Albtraumszenario der militärischen Konfrontation kehrt zurück», sagte der russische Aussenminister Sergej Lawrow (61) letzte Woche an einer Sitzung des OSZE-Ministerrats.

Hier testet Russland eine Hyperschall-Rakete
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Sie ist kaum abzufangen:Hier testet Russland eine Hyperschall-Rakete
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