Die Armeen sind teilweise gleich stark – kommts nun noch gröber oder zum Waffenstillstand?
Ukraine steuert auf blutige Pattsituation zu

Der russische Machthaber Wladimir Putin hat sich in der Ukraine verspekuliert. Der Vormarsch ist teilweise gestoppt. Es droht ein langer Zermürbungskrieg, in dem die russischen Truppen gezielt Zivilisten ins Visier nehmen.
Publiziert: 22.03.2022 um 08:30 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2022 um 12:24 Uhr
Guido Felder

Mit unverminderter Brutalität schlagen die russischen Invasoren auf die Ukraine ein. Aber mit ebenso unverminderter Tapferkeit und Ausdauer wehren sich die Angegriffenen in den umzingelten Städten. Die Kräfteverhältnisse sind nach bald einem Monat Krieg teilweise fast ausgeglichen.

Olexij Arestowitsch, Berater des Büroleiters von Präsident Wolodimir Selenski (44), sagte am Sonntag, dass weder die russische noch die ukrainische Seite genug Kraft habe, um die Situation in die eine oder andere Richtung zu drehen. Der Frontverlauf sei «praktisch eingefroren».

Der US-Thinktank «Institute for the Study of War» prophezeit, dass ein «blutiges Patt» wahrscheinlich sei und Woche oder Monate dauern könnte. Die Analysten befürchten eine Situation, in der es weder eine Feuerpause noch einen Waffenstillstand gibt, aber beide Kriegsparteien mit ihren Angriffen die Lage nicht wesentlich verändern können.

In den Vororten Kiews machen sich die ukrainischen Soldaten mit Panzerabwehrwaffen bereit.
Foto: keystone-sda.ch
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Russen rücken im Osten und Süden vor

Der ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32) relativiert diese Einschätzung: «Eine Pattsituation herrscht zurzeit vielleicht um Kiew. Im Süden und auch im Osten aber rücken die russischen Truppen weiter vor. Die Stadt Mariupol am Schwarzen Meer ist belagert.» Anstelle von Patt spricht Zogg von einem «verlangsamten Vorstoss».

Ausgeglichene Verhältnisse im Raum Kiew könnten dazu führen, dass es zu einem Zermürbungskampf um die Hauptstadt komme, der viele Tote fordern könnte, meint Zogg. «Wir können beobachten, dass Putins Truppen gezielt nun auch zivile Ziele ins Visier nehmen und vor zivilen Opfern nicht zurückschrecken.»

Bei der Schlacht um Kiew spielten Putins moderne Waffen wie die Supersonic-Rakete nicht einmal eine grosse Rolle. Zogg: «Die Russen setzen mehr auf archaische Munition wie Artillerie oder gar Streubomben, die ganze Gebiete treffen.»

Die Präzisionswaffen und Raketen würden hingegen vermehrt eingesetzt, um Waffenlieferungen aus dem Westen zu stoppen und Einrichtungen im Westen der Ukraine zu zerstören. So haben schon mehrere Raketen nahe der Grenze zu Polen eingeschlagen, bei Lwiw wurden ein Flugplatz und eine Flugzeugwerkstatt getroffen.

Doch noch ein Waffenstillstand?

Die Experten des US-Thinktanks gehen davon aus, dass Russland wahrscheinlich seine Pläne aufgegeben habe, Kiew von Westen her einzuschliessen oder von dort aus anzugreifen. Vielmehr bereite man sich darauf vor, das Stadtzentrum mit Raketen und Artillerie zu beschiessen.

Russische Haubitzen hätten eine Reichweite von rund 25 Kilometern. Um den Stadtkern anzugreifen, seien die russischen Truppen noch zu weit weg, etwa am Flugplatz Hostomel. Den Versuch der Russen, den Fluss Irpin zu queren, hätten ukrainische Truppen zurückgeschlagen. Die Stadt Browary östlich von Kiew sei innerhalb der Artillerie-Reichweite. Dies könne erklären, warum die Russen ihre Stellungen in dieser Gegend erbittert verteidigten.

Zogg rechnet damit, dass die Kämpfe noch «wochen- oder gar monatelang» dauern könnten. Er hat aber auch bisschen Hoffnung: «Beide Seiten sind ein Stück weit erschöpft. Es gibt ein paar ermutigende Zeichen, sodass ein Waffenstillstand denkbar wäre.»

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