Darum ist die Terror-Gefahr grösser denn je
Jeder sein eigener Dschihadist

Der Islam ist nicht Schuld an den Anschlägen. Auch nicht die Muslime. Aber Terroristen ziehen den Ruf der zweitgrössten Weltreligion in den Dreck.
Publiziert: 16.12.2014 um 21:16 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:57 Uhr
Von Hamed Abdel-Samad

Ob eine hochgerüstete Miliz oder ein einsamer Wolf; ob auf dem Vormarsch oder auf dem Rückzug, der militante Islamismus wird immer gefährlicher und unberechenbarer. Auch wenn der Geiselnehmer von Sydney keine direkte Verbindung zur IS-Miliz hat, seine Tat zeigt, dass der Dschihad längst eine Idee geworden ist, die sich jenseits von Strukturen und politischen Zielen verselbständigt hat.

Die zentralistische Al Kaida, die wir aus dem Jahr 2001 kennen, gibt es in dieser Form nicht mehr. Der Anti-Terror-Kampf schwächte die Terrororganisation in den letzten Jahren massiv. Ein Schicksal, das auch der IS-Miliz droht. Doch je schwächer die Mutterorganisation wird, desto mehr schlägt die Stunde der Einzeltäter. Wir haben mittlerweile eine «Do-it-yourself-IS» und «Al-Kaida-to-go».

Die Zutaten sind überall erhältlich: Ein hermetisch geschlossenes Weltbild, eine gehörige Portion Wut. Dazu kommt die islamistische Ideologie, die aus der banalen Verärgerung einen heiligen Zorn macht und die Opfer entmenschlicht.

Ottawa, Kanada: Michael Zehaf-Bibeau erschoss einen Wachsoldaten.
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Aus der Not wird eine Tugend. Keine Rekrutierung, keine langen Reisen, kein aufwendiges Training im Terrorcamp sind erforderlich. Jeder kann im Internet die Anleitung zum Bau einer Bombe herunterladen, sie selbst basteln und irgendwo in seinem Wohnort hochgehen lassen. Es geht einfach: Man besorgt sich ein Küchenmesser und enthauptet damit einen «Ungläubigen». Eine Gruppe junger Muslime kann sich im Internet zusammenfinden – ohne direkten Kontakt zu Al Kaida oder IS – und ein eigenes Terrorprojekt initiieren. Einzeltäter und Kleingruppen agieren oft auf eigene Faust, daher sind sie auch nicht mehr so präzise.

Aber die Gefahr ist da: weltweit. Es geht nicht nur um die Zahl der Opfer, sondern um die Abschreckung der Bevölkerung und die mediale Aufmerksamkeit.

Je mehr der IS im Irak und in Syrien unter Druck gerät, desto mehr müssen wir mit ähnlichen Aktionen auch in Europa rechnen. Der Anti-Terror-Kampf hat vielleicht den IS und seine Hintermänner im Blick, gegen Individuen wie den Kidnapper von Sydney hat er keine Strategie.

Was kann man auch dagegen unternehmen? Geheimdienste können gut vorbereitete Terroranschläge aufdecken, bei deren Planung mehrere Personen im In- und Ausland involviert sind, doch einsame Wölfe und Trittbrettfahrer können die Sicherheitsbehörden schwer lokalisieren. Denn: Sie agieren oft spontan und müssen ihre Pläne nicht mit anderen kommunizieren. Der Dschihad hat keine Adresse mehr, seine Wege und Motive werden undurchschaubarer.

Das Profil des Geiselnehmers von Sydney passt nicht zum üblichen Terrorraster. Ein 50-jähriger Iraner, der vom Schiitentum zum sunnitischen Islam konvertierte, sich selbst Imam und Astrologie-Experte nannte. Über 50 sexuelle Übergriffe gegen seine weiblichen Kundinnen werden ihm vorgeworfen. Ein weltfremder, verunsicherter Mann trägt einen kurzen Bart und ein Stoffband um die Stirn mit dem Namen des Propheten darauf.

Er schaut vorsichtig durch eine Fensterscheibe und stellt das Glaubensbekenntnis des Islam demonstrativ zur Schau. Er weiss genau, dass direkt gegenüber die TV-Station Channel 7 sitzt. Im Café hält er mehrere Geiseln und weiss nicht genau, was er von ihnen will. Er glaubt, durch diese Tat leiste er seinem Glauben einen Dienst, und ahnt nicht, dass er dadurch den weltweiten Hass auf diesen Glauben und seine Anhänger nur vermehren kann. Er wird umzingelt von hochgerüsteten Beamten und weiss, dass er nicht gewinnen kann.

Am Ende kommt es wie es kommen muss. Nachdem er seine 16 Stunden Ruhm hatte, wird er angegriffen. Er fällt und reisst andere mit in den Tod.

Es ist das Sinnbild des modernen Dschihadismus. Das Geiseldrama von Sydney zeigt, dass die Niederlage des militanten Islamismus Gefahren birgt. Ein desorientierter Mann mit persönlichen Problemen kann aus Hochmut oder Verzweiflung ein Attentat verüben und dann das Label der gerechten Sache draufkleben. Viele junge Muslime, die Europa verlassen, um sich dem Dschihad in Syrien anzuschliessen, handeln aus den gleichen Motiven.

Schon vor wenigen Monaten schien der Aufmarsch der IS-Miliz unaufhaltsam zu sein. Die IS-Anhänger zeichneten eine neue Weltkarte – mit den künftigen Grenzen ihres Kalifats. Teile Afrikas, Asiens, Europas sollen binnen fünf Jahren dazugehören. Der Kalif al-Baghdadi versprach seinen Anhängern, auch Rom zu erobern. Junge Muslime weltweit wurden ins Kalifat geladen, nicht als Selbstmordattentäter, sondern als Welteroberer. Eine Utopie der religiösen Befreiung schien die neue Heimat vieler entwurzelter Muslime zu sein.

Doch die US-geführten Luftanschläge und das Öl-Embargo gegen den IS haben die Terrormiliz bemerkbar geschwächt. In der heutigen globalisierten Weltwirtschaft kann eine solche Scharia-Enklave auch nur schwer als Staat überleben. Das Kalifat schrumpft und befindet sich auf dem absteigenden Ast.

Der Übermut der Gotteskrieger und die Euphoriewelle ihrer Sympathisanten scheinen vorerst gebrochen zu sein. Es ist die Stunde der Einzeltäter. Im Irak und in Syrien setzt der IS nun Selbstmordattentäter als letztes Mittel im Kampf ein. Von seinen Anhängern im Westen verlangt al-Baghdadi, dass die Vulkane des Dschihads ausbrechen sollen. Heisst: Anschläge gegen westliche Ziele sollten die westlichen Angreifer dafür bestrafen, dass sie gegen den IS militärisch vorgehen.

Millionen Muslime leben im Westen. Die Mehrheit folgt dem Ruf al-Baghdadis nicht, verabscheut solche Taten. Doch eine Minderheit besteht darauf, nicht nur ihr Glaubensbekenntnis zur Schau zu stellen, sondern auch im Namen des Glaubens Menschen zu terrorisieren. Diese Minderheit schafft es, die Aufmerksamkeit von Medien und Politik auf sich zu ziehen, sodass die friedliche Mehrheit immer unsichtbarer wird.

In Zeiten von Angst und Polarisierung wird der Ruf nach Differenzierung laut. Doch eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus hilft kaum jemandem. Im Gegenteil: Eine solche Unterscheidung hilft Anhängern des politischen Islam  mehr. Solange man das Problem beim IS, aber nicht beim Islam sieht, finden sich immer Islamisten, die behaupten, sie würden den Islam politisch besser umsetzen als die Dschihadisten. Eine Unterscheidung zwischen Islam und Muslimen halte ich für sinnvoller.

Es geht um Menschen, die aus mehreren Identitätsschichten bestehen und die nicht immer mit ihrem Glauben identisch sind. So wie nicht jeder Christ bibelfest ist, ist nicht jeder Muslim ein Koran auf zwei Beinen. Im Gegenteil: Die meisten Muslime halten sich nicht an Rituale und moralische Vorstellungen des Islam. Viele gläubige Muslime halten ihre Religion für Privatsache und haben die politischen Komponenten des Islam längst neutralisiert. Gerade diese Muslime braucht man im Kampf gegen Phänomene wie die IS-Sympathisanten und die einsamen Wölfe.

Der Islamismus ist eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Diesen kann man weder bekämpfen, indem man behauptet, der Islam sei die Religion des Friedens, noch indem man alle Muslime als potenzielle Attentäter ausgrenzt. Man braucht Mut, Ehrlichkeit, Wachsamkeit, Entschlossenheit und Fingerspitzengefühl!

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