Ein Kuss als Trost für den neuen König
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«Er sah so traurig aus»:Ein Kuss als Trost für den neuen König

Blick-Team berichtet aus dem trauernden Königreich
«Fühlt sich an, als wäre ein Teil der Familie gestorben»

Zehntausende Menschen erwiesen der verstorbenen Königin gestern vor dem Buckingham-Palast die Ehre. Für Grossbritannien beginnt eine schwierige Zeit. Die Erwartungen an Charles III. sind gross.
Publiziert: 10.09.2022 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2022 um 10:20 Uhr
Samuel Schumacher aus London

Tausende Menschen, betretene Stille, viele Tränen, kaum ein Lachen, Nieselregen – als ob auch der Himmel die Verstorbene beweinen würde: Die Anteilnahme der Britinnen und Briten am Tod von Königin Elizabeth II. (†96) ist enorm. Auf dem Platz vor dem Buckingham-Palast in London ist am Tag eins nach dem Ableben der amtsältesten Monarchin der Welt kein Durchkommen. Die Szenerie erinnert an ein riesiges Rockkonzert mit Zehntausenden Fans, die sich vor der Bühne drängen und darauf warten, dass ihre Idole ins Rampenlicht stürmen.

«Der Tod der Queen kommt wohl im dümmsten Moment»
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Auslandreporter Schumacher:«Der Tod der Queen kommt wohl im dümmsten Moment»

Nur stürmt da niemand. Es bleibt ruhig. Fast gespenstisch wirkt die Stille. John Wilson (79) steht etwas abseits unter einem schützenden Baum, um den Hals eine dunkle Krawatte mit goldenen Seepferdchen: die Insignien des Royal Ocean Racing Club, für den der Pensionär einst Rennen fuhr.

«So viel Würde, so viel Güte», sagt Wilson mit feuchten Augen. «Es fühlt sich an, als wäre ein Teil meiner Familie gestorben.» Gerade jetzt, sagt der ältere Mann den Tränen nahe, bräuchte die Nation eine wie sie an der Spitze. «Sie hat uns vereint in diesen schwierigen Zeiten – nicht nur uns Briten, uns alle.»

Grace aus Ghana hat eine lebensgrosse Papierkönigin zur Trauerfeier vor dem Buckingham-Palast mitgebracht.
Foto: MARK CHILVERS
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96 Ehrensalven schallen durch die Stadt

Der plötzliche Tod der 96-Jährigen keine 48 Stunden nach ihrem Treffen mit der neuen Premierministerin Liz Truss (47) dominiert in der englischen Hauptstadt alles. Jedes elektronische Werbeplakat zeigt ein Porträt der Verstorbenen. Die Wächter vor den royalen Gebäuden tragen schwarze Schleifen am Arm. In der Innenstadt stapeln sich überall Blumen und Briefe an die Queen unter den Bäumen. «Sie waren der Kitt, der uns zusammenhielt», steht auf einem der Briefe. «Wie sollen wir es ohne Sie schaffen?», steht auf einem anderen.

Kaum ein Mensch hat ein Land wohl je so lange geprägt wie Elizabeth Alexandra Mary Windsor. 1940 hielt sie als 14-jähriges Mädchen ihre erste Radioansprache und sprach den kriegsgeplagten Kindern der Welt Mut zu. 1953 liess sie – für die damalige Zeit ein revolutionärer Schritt – ihre Krönung live im Fernsehen übertragen. Am Donnerstag ist sie nach 70 Jahren auf dem Thron verstorben. 96 Ehrensalven schallten am Freitagmittag um 13 Uhr durch die Gassen der Londoner Innenstadt: eine für jedes Lebensjahr der Königin.

Ibrahim ist einer der letzten Elizabethianer

«Ich weiss, das klingt naiv», sagt Marilyn Mendel (71). «Aber wir hofften halt, dass sie ewig bei uns bleibt.» Mendel steht zuvorderst am schwarz-goldenen Gitter, das den Buckingham-Palast umgibt. Sie hat rote Rosen dabei, steckt die Blumen ins farbige Blütenmeer, das sich entlang des Gitters dahinzieht.

Auch Taylor (29) und Christine (29) stehen Schlange, um ihren Blumenstrauss vorne am Gitter niederzulegen. «Das ist wie damals beim Fall der Berliner Mauer», sagen die beiden Kanadier aus Calgary, die derzeit in London Ferien machen. «Es ist ein gutes Gefühl, ein kleiner Teil dieses grossen Moments zu sein.»

Gleich hinter den beiden steht eine junge Familie, der Vater hält ein Neugeborenes im Arm. «Das ist Ibrahim. Er kam am 10. Juli zur Welt», erzählt die stolze Mutter. «Er ist einer der letzten echten Elizabethianer!»

«Charles III. kanns packen»

Die ganz grosse Mehrheit der aktuellen Erdbewohner ist es auch: geboren zu Zeiten Elizabeths II., «Elizabeth der Grossartigen», wie sie der kürzlich abgetretene britische Premierminister Boris Johnson (58) gestern nannte. Diese Zeiten sind vorbei, die Ära von Charles III. ist angebrochen. Die royale Fahne, die hoch über dem Buckingham-Palast flattert (anders als alle anderen Flaggen im Land nicht auf halbmast, so will es das komplizierte Protokoll), zeigt an: Charles III. ist zu Hause, der neue König ist da, ganz nah.

«Wenn er sich traut, modern zu sein und die relevanten Themen wie den Umweltschutz anzupacken, dann wird er ein guter König», sagt Josh (31) aus London. Charles habe als Prinz mit seinen Stiftungen Tausenden geholfen und von seiner Mutter gelernt, worauf es beim Job eines Monarchen ankommt. «Klar, das sind riesige Fussstapfen, in die er da tritt. Aber er kanns packen», sagt Josh.

Grace und Satvinder sind sich da nicht ganz so sicher. Die beiden Freundinnen stehen am Rand der riesigen Menschentraube und schauen betreten in die Gegend. «Noch vor kurzem haben wir darüber diskutiert, was wir anlässlich ihres 100. Geburtstags tragen werden», erzählt Grace. «Jetzt ist die Königin tot, einfach weg.» Dann zeigen Grace und Satvinder, was sie in ihrer Tasche mitgebracht haben: eine lebensgrosse Pappkönigin, eine Papierkopie der Monarchin. Sie halten sie hoch, posieren für Fotos, mit der Queen zwischen sich. Und die Pappkönigin? Sie lächelt, als versuchte sie die riesige Lücke zu füllen, die in Grossbritannien seit Donnerstag klafft.

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