«Er hat seinen Kopf in den Boden gepresst und geschrien»
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Blick-Reporterin über Rettung:«Er hat seinen Kopf in den Boden gepresst und geschrien»

Blick-Reporterin hilft bei der Rettung ukrainischer Soldaten aus brennendem Truck
«Sein Gesicht war schwarz vom Russ, er schaute mich mit leerem Blick an»

Blick-Reporterin Helena Schmid (26) ist mit einem ukrainischen Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze unterwegs, als vor ihnen ein Militärtruck in Flammen aufgeht. Sie müssen die verletzten Soldaten bergen.
Publiziert: 01:04 Uhr
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Aktualisiert: vor 8 Minuten
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Helena SchmidReporterin

Bis zu diesem Moment waren die Explosionen weit weg. Obwohl wir in Sumy sind, einer ukrainischen Region an der Grenze zu Russland, wo die Bombeneinschläge ständig zu hören sind. Obwohl wir durch Rauchwolken fahren, vorbei an brennenden Feldern, die getroffen wurden. Doch dann passiert es plötzlich vor unseren Augen. 

Das Geräusch des Einschlags habe ich gar nicht registriert. Nur den brennenden Militärtruck in einer Böschung neben der Strasse. Mein Übersetzer Yevhen Semenikjin (38) reisst das Steuer herum, bremst. Wir springen aus dem Auto.

Der brennende Truck war auf dem Weg nach Kursk, Russland. Die ukrainische Armee hat Anfang August den Grenzposten gestürmt, mehrere Dörfer und die kleine Stadt Sudscha unter ihre Kontrolle gebracht. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass ein russisches Gebiet von einem anderen Land besetzt wird.

Blick-Reporterin Helena Schmid (26) ist Mitte September mit einem ukrainischen Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze unterwegs.
Foto: Helena Schmid
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Verletzte Soldaten vor Flammen gerettet

Russland hat mittlerweile eine Gegenoffensive gestartet, will Kursk zurückerobern. Entsprechend beschiesst die russische Armee vermehrt die angrenzende ukrainischen Region Sumy mit Raketen. Dort sind Yevhen und ich unterwegs, als der Militärtruck vor uns getroffen wird. 

Das Feuer lodert in der Fahrerkabine. Ich sehe einen Soldaten, der barfuss die Böschung hinauf stolpert. Sein Gesicht ist schwarz vom Russ, er schaut mich mit leerem Blick an, stösst verzweifelte Schreie aus. Ich packe seinen Arm und versuche, ihn möglichst schnell weg vom Truck Richtung Strasse zu schaffen. Doch er lässt sich immer wieder auf die Knie fallen und presst seinen Kopf gegen die Erde. «Vse dobre, vse dobre!» («Alles ist gut»), sage ich in gebrochenem Ukrainisch.

Inzwischen hat ein weiteres Auto mit Soldaten angehalten, einer eilt mir zu Hilfe. Yevhen entdeckt einen zweiten Verletzten direkt neben dem Truck. «Ich dachte, der Truck könnte jederzeit ganz explodieren, also rannte ich zu ihm», sagt er. «Einer der Soldaten kam dazu und versicherte mir, dass es ein Dieseltank ist, der nicht hochgehen wird.»

Truck vermutlich von Drohnen attackiert

Wir nennen diesen Soldaten Taras*. Er hat uns gebeten, seinen richtigen Namen nicht zu verraten. Ich sehe, wie Yevhen und Taras den Verletzten die Böschung hochziehen. «Er war bewusstlos», erzählt Taras. «Aber ich habe seinen Puls am Handgelenk gespürt.»

Seit der ukrainischen Offensive überwacht die russische Armee die Region Sumy pausenlos. Überwachungsdrohnen fliegen das Gebiet ab, übermitteln die Filmaufnahmen nach Russland. Sie sind zu hoch oben, als dass man sie hören oder sehen könnte. Wenn die russischen Soldaten ein potenzielles Ziel erkennen, schicken sie eine zweite Drohne los, beladen mit Munition. Ihr Surren kann man hören – doch dann ist es oft schon zu spät.

Vermutlich war es eine solche Drohne, die den Militärtruck getroffen hat, erklärt mir Soldat Taras im Nachhinein. 

Plötzlich fliegen Kugeln durch die Luft

Wir kümmern uns gerade um den zweiten Verletzten, als ich plötzlich ein Knistern und Zischen höre, wie Feuerwerkskörper. Yevhen: «Ich kannte das Geräusch von einem früheren Vorfall und wusste, dass es von der Munition im Truck kam.»

Dieser steht nun in Vollbrand. Die Flammen lassen die Munition auf der Ladefläche explodieren, Kugeln fliegen unkontrolliert in alle Richtungen. Yevhen und Taras laden den zweiten Verletzten ins Auto der Soldaten, das sofort Richtung Spital rast. 

Ich renne weg vom brennenden Truck, gehe etwa 50 Meter entfernt in Deckung, Yevhen kommt einige Augenblicke später nach. Taras holt unser Auto, wir springen rein.

«Verletzte werden an Front zurückkehren»

Meine Tasche liegt neben dem Auto im Gras, ich nehme sie und bin nicht sicher, ob ihr Inhalt jetzt verteilt neben der Strasse liegt. Wir fahren trotzdem sofort los – in der Dämmerung zurück in die Stadt Sumy, schweigend.

Ich filme noch einmal aus dem Fenster, weil ich meine Hände nicht stillhalten kann. Doch es ist zu dunkel. Ich weiss nicht mehr, welcher Song im Radio lief, als Taras beginnt, leise mitzusingen – und uns aus unseren Gedanken reisst. «Solche Vorfälle habe ich selten erlebt», erzählt er mir später. Während der Rettungsaktion konnte ich nicht filmen. Yevhen, Taras und ich fahren also am Tag darauf zurück, besichtigen den ausgebrannten Truck.

Die Namen der Soldaten, die verletzt wurden, wissen wir nicht, auch nicht ihr Bataillon. Wie es ihnen wohl geht? Taras sagt, er habe Männer mit viel schlimmeren Verletzungen an die Front zurückkehren sehen: «Ich bin mir sicher, dass die beiden bald weiterkämpfen werden.»

* Name geändert 


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