Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum Bürgerkrieg, der weiter ausarten könnte
So gefährlich ist der Tigray-Konflikt in Äthiopien

Wie lange hatten die Äthiopier doch den Frieden und eine Öffnung herbeigesehnt! Doch die Freude dauerte nur kurz. Die Begehrlichkeiten der Regionen haben das Land in einen schweren Bürgerkrieg versetzt. Blick erklärt, warum es dazu kam.
Publiziert: 08.11.2021 um 15:06 Uhr
Guido Felder

In Äthiopien herrscht Bürgerkrieg. Genau vor einem Jahr ist ein im Land schwelender Streit in eine blutige Schlacht zwischen der Zentralregierung und der Region Tigray im Norden ausgebrochen. Tausende Menschen haben schon ihr Leben verloren, Millionen sind auf der Flucht. Die Soldaten aus Tigray drohen mit der Einnahme der Hauptstadt Addis Abeba.

Wie es dazu kam, wer gegen wen kämpft, wie gefährlich der Bürgerkrieg für das ganze Horn von Afrika werden könnte, wie die Zivilbevölkerung leidet und ob es eine Lösung für den Frieden gibt: Blick erklärt's.

Wie kam es zum Bürgerkrieg?

Als sich Anfang November 2020 alle Blicke auf die US-Wahlen richteten, brach in Äthiopien ein blutiger Konflikt aus. Gezündet wurde er durch einen Angriff der Volksbefreiungsfront der Region Tigray (TPLF) auf einen Stützpunkt der äthiopischen Armee, auf den Premierminister Abiy Ahmed (45) mit einem Vergeltungsschlag antwortete.

In Mekele, der Hauptstadt Tigrays, kam es in diesen Tagen zu heftigen Luftangriffen.
Foto: keystone-sda.ch
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Die TPLF regierte das Land rund 25 Jahre lang mit Repression und Korruption. 2018 löste Abiy Ahmed als Premierminister das Schreckensregime ab. Als er 2020 wegen der Pandemie nationale Wahlen absagte, führte die TPLF dennoch Regionalwahlen durch, bei der sie fast alle Sitze gewann. Der Premierminister erklärte die Wahl aber für illegal und daher ungültig, was den offenen Streit entfachte.

Wer kämpft gegen wen?

Die äthiopische Armee wird von Truppen aus dem Nachbarland Eritrea unterstützt, das an Tigray angrenzt und das mit der Region im Clinch liegt. Auch paramilitärische Einheiten aus andern äthiopischen Regionen wie Amhara und Afar stehen für die Zentralregierung im Einsatz. Auf der anderen Seite kämpfen die Paramilitärs der TPLF und Rebellen aus Tigray.

Wer ist Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed?

Die Hoffnungen waren gross, als Abiy Ahmed im Frühling 2018 Premierminister wurde. Er reformierte das Land, öffnete die Grenzen und begann eine Versöhnungspolitik mit Nachbar Eritrea. 2019 wurde er dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Als er Regierungschef wurde, besetzte er die Hälfte der Ministerien mit Frauen. Er ist verheiratet und hat drei Töchter.

Was ist die Region Tigray?

Tigray wurde 1991 zu einer der neun ethnisch definierten Verwaltungsregionen Äthiopiens. Hauptstadt ist Mekele. Das Gebiet ist etwas grösser als die Schweiz und zählt sieben Millionen Einwohner. Der von 1995 bis 2012 amtierende Premierminister Äthiopiens, Meles Zenawi (†57), und sein von 1991 bis 2010 amtierender Aussenminister Seyoum Mesfin (70) stammen beide aus Tigray.

Dominik Langenbacher (70), Schweizer Botschafter in Äthiopien von 2010 bis 2013 und Afrika-Kenner, sagt: «Hinter der Volksbefreiungsfront der Region Tigray steht die alte Garde, die mit dem Zentralregime von Meles Zenawi verbandelt war. Weil grosse Arbeitslosigkeit herrscht, werden auch die Jungen marschieren, wenn man ihnen eine Kalaschnikow in die Hand drückt und einen kleinen Lohn bezahlt.»

Wie leidet die Bevölkerung?

Die Unoschätzt, dass allein in Tigray 5,2 Millionen Menschen humanitäre Hilfe brauchen, 400’000 sind akut vom Hungertod bedroht. In den Regionen Afar und Amhara, auf die sich die Kämpfe ausgeweitet haben, leiden 1,7 Millionen Menschen an Hunger. Die Zentralregierung blockiert teilweise Lieferungen und hat sogar hochrangige Un-Mitarbeiter und Vertreter von Ärzte ohne Grenzen ausgewiesen.

Die Uno hat Tötungen, Folter, sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Flüchtlinge und die Vertreibung von Zivilisten dokumentiert. Täter seien ebenso in den Reihen der Streitkräfte Äthiopiens und Eritreas als auch in jenen von Anhängern der Tigray-Unabhängigkeitsbewegung verübt worden. «Der Tigray-Konflikt ist geprägt durch extreme Brutalität», sagte die Un-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet (70).

Welche Auswirkungen hat der Konflikt auf die Region?

Der Konflikt könnte nicht nur Äthiopien, sondern die gesamte Region destabilisieren, vor allem die Nachbarländer Somalia und Südsudan. Eritrea, mit dem Abiy Ahmed 2018 Frieden schloss, könnte gar offiziell in den Konflikt eingreifen.

Keine Ruhe in Äthiopien

Das Land am Horn von Afrika ist mit über 80 ethnischen Gruppen und zahlreichen Sprachen ein Vielvölkerstaat mit 112 Millionen Einwohnern. Hauptstadt ist Addis Abeba. Das frühere Abessinien war 1935 bis 1941 vom faschistischen Italien besetzt, das schon seit 1887 versuchte, es zu kolonialisieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg modernisierte der legendäre Kaiser Haile Selassie (1892-1975) das Land und führte Äthiopien in die Unabhängigkeit. Der sozialistische Militärputsch von 1974 läutete eine der repressivsten Diktaturen Afrikas ein, die 1991 durch einen Bürgerkrieg niedergeschlagen wurde.

1991 marschierten Truppen der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) und der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) in Addis Abeba ein und brachten das kommunistische Mengistu-Regime zu Fall. Nach rund 30 Jahren endete der erbitterte Bürgerkrieg, die Provinz Eritrea erlangte ihre Unabhängigkeit. Seit 2018 ist der liberale Abiy Ahmed als Premierminister im Amt. Das Land sorgte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wegen schweren Hungersnöten für Schlagzeilen.

Das Land am Horn von Afrika ist mit über 80 ethnischen Gruppen und zahlreichen Sprachen ein Vielvölkerstaat mit 112 Millionen Einwohnern. Hauptstadt ist Addis Abeba. Das frühere Abessinien war 1935 bis 1941 vom faschistischen Italien besetzt, das schon seit 1887 versuchte, es zu kolonialisieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg modernisierte der legendäre Kaiser Haile Selassie (1892-1975) das Land und führte Äthiopien in die Unabhängigkeit. Der sozialistische Militärputsch von 1974 läutete eine der repressivsten Diktaturen Afrikas ein, die 1991 durch einen Bürgerkrieg niedergeschlagen wurde.

1991 marschierten Truppen der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) und der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) in Addis Abeba ein und brachten das kommunistische Mengistu-Regime zu Fall. Nach rund 30 Jahren endete der erbitterte Bürgerkrieg, die Provinz Eritrea erlangte ihre Unabhängigkeit. Seit 2018 ist der liberale Abiy Ahmed als Premierminister im Amt. Das Land sorgte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wegen schweren Hungersnöten für Schlagzeilen.

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Schon stehen auch Nachbarn bereit, um vom geschwächten Äthiopien zu profitieren. Langenbacher zu Blick: «Von den arabischen Staaten auf der andern Seite des Roten Meers wird der Islamismus noch stärker gefördert werden. Kairo wird versuchen, mehr Einfluss auf den neuen und umstrittenen Nil-Staudamm, den Grand Ethiopian Renaissance Dam, zu nehmen, der die Wasserversorgung in Ägypten gefährden könnte.»

Wie reagiert die Welt?

Führende internationale Politiker und der Un-Sicherheitsrat fordern einen Waffenstillstand und freien Zugang für Hilfslieferungen und Helfer zu den umkämpften Regionen. Die USA haben die TPLF aufgefordert, sich aus Afar und Amhara zurückzuziehen. Gleichzeitig verhängte die US-Regierung Visa-Sanktionen gegen einzelne äthiopische und eritreische Vertreter. Die EU hat Teile der finanziellen Unterstützung für Äthiopien eingefroren.

Wie gefährlich sind jetzt Reisen nach Äthiopien?

Sehr! Am 2. November wurde über das ganze Land der Ausnahmezustand verhängt. Das EDA rät vor touristischen und andern nicht dringenden Reisen ab.

Wie kann man Ordnung und Frieden schaffen?

Abiy Ahmed ist Opfer des eigenen Erfolgs geworden. Dominik Langenbacher: «Durch die Öffnung und Demokratisierung hat er bei den Stämmen in den Regionen Begehrlichkeiten geweckt. Es ist sehr schwierig, diese auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.»

Dass sich die Region Tigray abspaltet, glaubt Langenbacher nicht, da sie für die Eigenständigkeit einen Meereshafen bräuchte. Langenbacher: «Die Lösung wird wohl sein, dass die Zentralregierung das Land wieder mit mehr militärischer Härte zusammenhält.»

Die Afrikanische Union (AU) hat den früheren nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo (84) zum Gesandten ernannt, der für eine Deeskalation sorgen soll.


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