So rüstet die EU gegen Flüchtlinge auf
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Griechisch-türkische Grenze:So rüstet die EU gegen Flüchtlinge auf

BLICK auf Lesbos, wo das europäische Flüchtlingselend am schlimmsten ist – die Afghanin Fatemeh (26) sagt
«Ich möchte nicht, dass mein Baby an so einem Ort zur Welt kommt»

Wie kein anderer Ort verkörpert die griechische Insel Lesbos die Flüchtlingskrise. Seit Erdogan die Grenzen geöffnet hat, liegen auf der Mittelmeerinsel die Nerven blank.
Publiziert: 05.03.2020 um 20:40 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2020 um 19:32 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Fatemeh (26) will nur noch weg von hier. «Moria ist einfach zu gefährlich», sagt die Afghanin über den Slum am Rande Europas. Seit sechs Monaten lebt sie in dem hoffnungslos überfüllten Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos. «Vor einem Monat war es bitterkalt. Und wir stehen stundenlang für Toiletten und Essen an.»

Rettung soll die Abendfähre nach Athen bringen. Die Reiseerlaubnis dafür hat Fatemeh. Mit ihrem Mann Reza (28) und dem zweijährigen Arman wartet sie schon am Nachmittag im Hafen von Mytilini auf das ersehnte Schiff.

Doch Ordnungskräfte vertreiben die Familie und Dutzende andere Flüchtlinge seit Tagen. «Geht! Geht!», rufen sie. «Niemand von euch fährt heute irgendwohin!» Eine Begründung? Fehlanzeige. «Gestern haben wir drei Stunden am Hafen gewartet. Dann hat uns die Polizei mit Stöcken geschlagen», erzählt Fatemehs Landesgenossin Fazila (22).

Schwanger auf Lesbos gestrandet: Die junge Afghanin Fatemeh (26) wartet am Hafen auf die Überfahrt nach Athen – seit Tagen.
Foto: Fabienne Kinzelmann
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Auf der Insel liegen die Nerven blank

Auf der Mittelmeerinsel liegen die Nerven blank. Seit Erdogan die Grenzen geöffnet hat, zeigt Europa sein hässliches Gesicht. Am Montagmorgen starb vor Lesbos' Küste ein Kleinkind. An der Landesgrenze in Erdine sollen griechische Polizisten einen syrischen Flüchtling erschossen haben.

Und Griechenland schottet sich weiter ab. Das südeuropäische Land hat das Asylrecht praktisch ausgesetzt. Auf Lesbos werden Neuankömmlinge im Hafen registriert und auf ein Militärschiff verfrachtet. Das soll irgendwann aufs Festland fahren – wann, ist noch offen. Genauso wie die Frage, ob die Flüchtlinge dort ihr Recht auf Asyl wahrnehmen können.

«Die griechische Regierung macht es genau wie Trump», kommentiert eine freiwillige Helferin. Die Abschottungspolitik wird nicht nur den Flüchtlingen zum Verhängnis, sondern auch Menschen wie ihr. Wegen massiver Drohungen und Attacken haben zahlreiche Helfer die Insel bereits verlassen.

Besonders unbegleitete Minderjährige sind in Not

Wie bei der US-Grenze zu Mexiko sind die Leidtragenden vor allem unbegleitete Minderjährige. Rund tausend von ihnen gibt es in Moria. «Wir haben keine Mitarbeiter mehr, um ihre geschützte Zone zu sichern oder ihnen das Essen gesondert auszugeben», sagt Christos Vasileiou (47). Er ist der Büroleiter der Hilfsorganisation Eurorelief, die in Moria Flüchtlinge mit Decken und Kleidung erstversorgt und ihnen Unterkünfte und Hygieneprodukte bietet. Am Mittwoch musste er 60 Prozent seiner Leute nach Hause oder aufs Festland schicken.

Rechte hatten in den vergangenen Tagen «Checkpoints» auf der Insel eingerichtet. Videos und Fotos dokumentieren die zahlreichen tätlichen Übergriffe auf Journalisten und Freiwillige. «Das ist kein demokratisches Land mehr», empört sich ein junger Grieche, der selbst als freiwilliger Helfer auf der Insel arbeitet. «Es ist doch verrückt, dass es mitten in Europa Strassenblockaden gibt.»

Noch nicht mit dem Drama von 2015 vergleichbar

Dabei gibt es für Panik keinen Grund. «Die Situation ist eine ganz andere als 2015», sagt Boris Cheshirkov, Sprecher der Flüchtlingskommission UNHCR. «Ich war damals auf Lesbos. Da hatten wir Tage mit 10'000 Neuankömmlingen – mehrfach hintereinander.» Zwischen Samstag und Montag kamen jetzt gerade mal um die 600 Menschen auf Lesbos an.

Doch wenn niemand die Insel verlassen darf, kratzen auch ein paar Hundert weiter an der Belastungsgrenze. «Die Überfüllung von Moria hat bereits ein sehr kritisches Level erreicht», sagt UNHCR-Sprecher Cheshirkov. Rund 20'000 Menschen leben dort – ausgelegt ist das Lager nur für 3000. Die meisten der Flüchtlinge stammen aus Syrien oder wie Fatemeh, die unbedingt weg will, aus Afghanistan.

Fatemeh wartet trotz Regen geduldig darauf, ob sie nicht doch noch auf die Fähre darf. Sie hat mehr als einen guten Grund, nicht aufzugeben: «Ich möchte nicht, dass mein Baby an so einem Ort zur Welt kommt.» Sie ist gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger.

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