«Ich habe Angst, aber ich höre auf mein Herz»
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Lukaschenko-Gegnerin kämpft:«Ich habe Angst, aber ich höre auf mein Herz»

Belarus-Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja (38) kämpft aus dem Exil um ihr Land
«Ich habe Angst, aber ich höre auf mein Herz»

Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja ist in der Schweiz. Im BLICK-Interview spricht die belarussische Hoffnungsträgerin über Sanktionen, das Verhältnis zu Wladimir Putin – und den immensen Druck, der auf ihr lastet.
Publiziert: 09.03.2021 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 08:27 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

Swetlana Tichanowskaja wird gut beschützt. Ein Dutzend Sicherheitskräfte begleiten die prominente Belarussin durch Genf, sichern die Türen, jemand nimmt ihr den Mantel ab. Routiniert posiert die unfreiwillige Spitzenpolitikerin, die es bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 mit Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko (66) aufgenommen hat und ins Exil nach Litauen fliehen musste, auf den Stufen der altehrwürdigen Comédie de Genève für BLICK. Schon nach einer Minute sind die Fotos der Staatsfrau wider Willen im Kasten.

Soll ich Sie eigentlich mit «Frau Präsidentin» ansprechen?
Tichanowskaja: Natürlich, das können Sie machen! Es gibt ja keinen Zweifel daran, wie die Wahl ausging. Ich selbst spreche von mir am liebsten als Wahlsiegerin, weil ich das Amt ja nicht ausüben darf.

Sie traten bei der Präsidentschaftswahl in Belarus für Ihren inhaftierten Mann Sergei Tichanowski an. Auch eine Ihrer engsten Mitstreiterinnen, die Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikawa, sitzt mittlerweile im Gefängnis. Wie geht es den beiden?
Sie sind echte Helden, sie leiden sehr. Sie können sich die Situation in den belarussischen Gefängnissen nicht vorstellen! Körperlich und psychisch ist es sehr schwierig, aber sie verlieren die Hoffnung nicht. Sie glauben an die Leute. Sie wissen, dass andere für sie kämpfen. Auch wenn ihnen die Gefängnisleitung nicht mal alle Briefe aushändigt – um sie glauben zu lassen, dass sie vergessen werden.

Die 38-jährige Swetlana Tichanowskaja ist das Gesicht der Opposition in Belarus.
Foto: Niels Ackermann
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Noch bis Mittwoch sind Sie in der Schweiz, wollen sich unter anderem mit Nationalratspräsident Andreas Aebi und Bundesrat Ignazio Cassis treffen. Was wollen Sie von ihnen?
Ich werde mit Ihnen über die Situation von Natallia Hersche sprechen, die inhaftierte Schweizerin in Belarus. Die Schweiz muss für ihre Bürgerin noch viel stärker und lauter eintreten. Natallia will auf gar keinen Fall im Tausch für irgendwas freigelassen werden, wie es bei einem Amerikaner im Herbst der Fall war. Sie ist sehr stark. Es muss also ein anderer Hebel gefunden werden, um sie freizubekommen. Ausserdem möchten wir, dass die Schweiz die versteckten Vermögenswerte von Alexander Lukaschenko und seinen Kumpanen in der Schweiz untersucht. Und dann wäre da noch die Frage nach Sanktionen.

Die Schweiz hat Reise- und Finanzsanktionen gegen Lukaschenko und 58 weitere Personen verhängt.
Ja, aber der Bundesrat hat das dritte EU-Sanktionspaket vom Dezember gegen 36 weitere Personen, die für die anhaltende Unterdrückung von friedlich Protestierenden, Oppositionsmitgliedern und Journalisten verantwortlich sind, bislang nicht unterstützt. Wir fragen uns, warum.

Nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im August waren Sie gegen neue Sanktionen. Was hat Ihre Meinung geändert?
Ich war nie gegen Sanktionen – ich hätte sie nur gerne vermieden. Aber jetzt braucht es mehr Druck auf das Regime. Es gibt eine humanitäre und politische Krise in Belarus und die müssen wir beenden. Ohne Druck bewegt sich das Regime nicht, sondern verschlimmert sich die Situation sogar noch. Es braucht individuelle Sanktionen gegen Personen, die in die Wahlmanipulationen involviert waren, und für Richter, die ungerechte Haftstrafen verhängen. Ausserdem braucht es gezielte Wirtschaftssanktionen gegen staatliche Organisationen – aber auf gar keinen Fall Sanktionen, die alle Belarussen treffen. Die Menschen haben schon genug gelitten.

Von der Hausfrau zur Oppositionsführerin

Swetlana Tichanowskaja (38) studierte Pädagogik und arbeitete als Übersetzerin, bevor sie zwei Kinder bekam. Bei der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 trat sie anstelle ihres verhafteten Ehemanns Sergei Tichanowski (42) als Spitzenkandidatin der Opposition an. Nach der manipulierten Wahl rief sie zu Protesten auf und gründete einen Koordinierungsrat für eine friedliche Machtübergabe, musste allerdings selbst ins Exil nach Litauen fliehen.

Swetlana Tichanowskaja (38) studierte Pädagogik und arbeitete als Übersetzerin, bevor sie zwei Kinder bekam. Bei der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 trat sie anstelle ihres verhafteten Ehemanns Sergei Tichanowski (42) als Spitzenkandidatin der Opposition an. Nach der manipulierten Wahl rief sie zu Protesten auf und gründete einen Koordinierungsrat für eine friedliche Machtübergabe, musste allerdings selbst ins Exil nach Litauen fliehen.

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Wie bleiben Sie von Ihrem Exil in Litauen aus mit den Belarussinnen und Belarussen in Kontakt?
Über das Internet. Die Leute haben zahlreiche Strukturen und Gruppen aufgebaut. Ich spreche mit den Anführern und weiss, dass die Informationen weiterverbreitet werden.

Sind die Menschen nicht auch sauer, dass Sie geflüchtet sind – während sie auf der Strasse kämpfen?
Ja, ich bekomme manchmal solche Nachrichten. Dass ich kein Mandat hätte, um mich im Ausland zu äussern und das Land zu vertreten. Aber es bringt ja nichts, wenn ich zurückkomme. Die Hälfte meiner Familie ist inhaftiert. Ich kann meine Kinder doch nicht allein lassen und auch ins Gefängnis gehen. Die meisten verstehen das.

Und der Strassenprotest ist ohnehin tot, oder?
Nein, er hat sich nur verändert. Die Menschen protestieren in kleineren Gruppen und dezentral, weil das weniger gefährlich ist. Ich verstehe, dass sie sich nicht alle aufopfern wollen. Aber sie gehen raus. Es ist wirklich die ganze Bevölkerung gegen das Regime.

Bereuen Sie eigentlich, dass Sie am Anfang auf Putins Unterstützung gehofft haben?
Russland ist unser Nachbarland. Diese Verbindung dürfen wir nicht verlieren. Wir haben eine wichtige Handelsbeziehung, und es ist sehr schade, dass der Kreml Lukaschenko, die Gewalt und die Folter unterstützt. Aber wir sind immer noch offen für einen Dialog.

Standen Sie jemals persönlich mit dem Kreml in Kontakt?
Nein. Es ist auch keine angenehme Situation für Moskau. Es ist schwierig für die Russen, unsere Position zu akzeptieren, weil sie Sorge haben, dass sie in die gleiche Situation kommen. Auf der anderen Seite wird die Unterstützung für Lukaschenko für Russland langsam zu teuer – politisch wie finanziell. Lukaschenko will sein Gesicht nicht verlieren, deswegen redet er noch über Verfassungsänderungen oder ein Referendum. Aber das kann er gar nicht mehr umsetzen, weil ihn die Bevölkerung nicht als Präsident anerkennt. Wir brauchen Neuwahlen.

Schaffen Sie das ohne Putin?
Wir hätten gerne seine Unterstützung gehabt. Was ich aber den europäischen Ländern immer wieder erklären muss: Belarus und Russland sind unterschiedliche Länder. Wir sind verbunden, aber separate Nationen. Wir sprechen verschiedene Sprachen. Und es liegt nicht in Putins Verantwortung, über unseren Wunsch nach Demokratie zu entscheiden. Natürlich hat er Einfluss, aber wir finden auch unseren eigenen Weg.

Aber wenn Putin die Demokratiebewegung in Belarus toleriert, könnten ihm auch seine Strassenproteste in Russland um die Ohren fliegen, oder?
Die beiden Proteste und Bewegungen sind nicht vergleichbar. Der Kontext ist ein anderer – in Russland protestieren die Menschen gegen Korruption, bei uns ist es eine Revolution. Und natürlich wäre der Kreml ungern in der gleichen Position. Aber hier geht es um Belarus, nicht um Russland.

Wie begegnen Sie Vorwürfen, dass Sie aus dem Ausland finanziert und unterstützt werden?
Darauf reagiere ich gar nicht, das ist völliger Quatsch. Als es die riesigen Proteste gab, hat Lukaschenko die Leute gefragt, wie viel ihnen dafür bezahlt wird. Erst hat er Russland beschuldigt, die Opposition zu unterstützen. Jetzt eben die EU. Wenn er unbedingt einen Schuldigen braucht, soll er einfach in den Spiegel schauen. So einfach ist das.

Sie wollten nie Politikerin werden, jetzt sind Sie das Gesicht der belarussischen Opposition, leben im Exil und versuchen, zwischen Europa und Russland die Balance zu finden. Wie gehen Sie mit dem Druck um?
Ich habe Angst. Aber ich höre auf mein Herz und meine Berater. Auf die Leute, die mich begleiten, und die Leute, die an der Front kämpfen. Das ist natürlich sehr beängstigend, weil es so eine grosse Verantwortung für mich ist. Aber ich fürchte mich nicht vor Fehlern. Eine Person, die keine Fehler macht, macht auch nichts. Wir müssen allein für die Tausenden Menschen im Gefängnis weitermachen.

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