700'000 Fachkräfte fehlen wegen Krieg
«Das ist ein Schock für die russische Wirtschaft»

Der russischen Wirtschaft geht es nicht gut – zu viele Fachkräfte fehlen, zu wenig Geld ist da. Eine Erholung vom Schock ist noch lange nicht in Sicht.
Publiziert: 04.11.2022 um 18:29 Uhr
|
Aktualisiert: 23.11.2022 um 09:39 Uhr
BlickMitarbeiter06.JPG
Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Der russische Krieg gegen die Ukraine ist teuer – und wird immer teurer für Kremlchef Wladimir Putin (70). Wie das Institute for the Study of War (ISW) berichtet, wird der Krieg und die Sanktionen «langfristige Auswirkungen» auf die russische Wirtschaft haben.

Das russische Wirtschaftsministerium teilte am Donnerstag mit, dass die russische Wirtschaft im September auf Jahresbasis um fünf Prozent und damit stärker als die im Vormonat verzeichneten vier Prozent schrumpfte. Finanzexperten erklärten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bereits im September, dass der Kreml mit einem Haushaltsdefizit konfrontiert sein wird, das «Moskaus Reserven auf den niedrigsten Stand seit Jahren aufzehren wird».

Von hohen Ausgaben für den Krieg, die Rekruten und die Rüstungsindustrie, über die westlichen Sanktionen bis hin zu Hunderttausend Arbeitskräften, die das Land bereits verlassen haben: Die Gründe für Russlands schwächelnde Wirtschaft sind vielfältig.

Russlands Teilmobilmachung hat schwere Folgen für die russische Wirtschaft.
Foto: keystone-sda.ch
1/8

Geflohene Russen können «unmöglich» ersetzt werden

Laut westlichen Regierungsquellen sind infolge der teilweisen Mobilmachung schätzungsweise 400'000 Russen aus ihrer Heimat geflohen. Dazu kommen die 300'000 Reservisten und die 82'000 Männer, die bereits an der Front im Einsatz sind. Insgesamt ein erheblicher Verlust von Berufstätigen.

Wenn man also alleine von 700'000 Russen ausgeht, die seit der Teilmobilmachung nicht mehr arbeiten, bedeutet dies einen Verlust von etwa einem Prozent der russischen Arbeitskräfte. Das klingt nicht nach viel, doch wie Sergei Guriev (51), russischer Wirtschaftswissenschaftler am Instituts d'études politiques in Paris und ehemaliger Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, gegenüber Blick erklärt: «Das ist ein Schock für die russische Wirtschaft.»

Denn dieses eine Prozent sei mit grosser Wahrscheinlichkeit sehr gut ausgebildet und überwiegend männlich – zwei Faktoren, die einen leichten Ersatz «unmöglich machen», so der Wissenschaftler. «Ausserdem werden diese Menschen – so oder so – nicht mehr an ihre Positionen zurückkehren.» Dies wird einen langfristigen Schock für die russische Wirtschaft nach sich ziehen, prognostiziert Guriev.

Auch Guido Cozzi, Professor für Makroökonomie an der Universität St. Gallen, erklärt: «Hoch qualifizierte Menschen suchen nach qualifizierten Arbeitsplätzen im Ausland, was zu einer beträchtlichen Abwanderung von Fachkräften führt, die sich noch viele Jahre lang negativ auf die Produktivität der russischen Wirtschaft auswirken wird.» Das könnte die russische Wirtschaft über Jahre negativ beschäftigen.

Kriegskosten versetzen russischer Wirtschaft Dämpfer

Und auch die Kriegskosten machen der russischen Wirtschaft zu schaffen. Wie das ISW in seinem neuesten Bericht schreibt, werden alleine die Auszahlungen an die mobilisierten Männer in den nächsten sechs Monaten zwischen 900 Milliarden und drei Billionen Rubel (14 bis 49 Milliarden Franken) kosten. Diese Summe berücksichtigt allerdings nur die rund 300'000 Reservisten – die Freiwilligen und Berufssoldaten seien hier nicht einberechnet. Hier schätzt das «ISW» Kosten von mindestens 1,2 Millionen US-Dollar pro Monat.

Auch die finanziellen Anreize, die jungen Russen geboten werden, die gegen die Ukraine in den Krieg ziehen, belasten das Staatsbudget stark. So stark, dass einige mobilisierte Männer gar nicht mehr bezahlt werden. Deswegen streikt nun eine Gruppe Mobilisierter. «Unser Staat weigert sich, uns die Summe von 195 Tausend Rubel (rund 3200 Franken) zu zahlen, die uns von unserem Präsidenten versprochen wurde. Warum sollten wir dann für diesen Staat in den Krieg ziehen und unsere Familien ohne Unterstützung zurücklassen?» Es scheint sich also auch ein soziales und politisches Problem daraus zu entwickeln.

Oleg Itskhoki (39), russisch-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler an der University of California, führt gegenüber Blick aus: «Die russische Regierung hält alle möglichen Versprechen nicht ein, und sie wird einen grossen Teil der Zahlungen an die Mobilisierung nicht leisten können.» Doch soziale Unruhen sieht er (noch) nicht in Russlands naher Zukunft. Zu gross sei das finanzielle Polster der Regierung und die Repression im Innern. Und: «Wenn Russen bereit sind, ihr Leben für den Krieg zu opfern, warum sollten sie dann wegen finanzieller Schwierigkeiten protestieren?»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?